Der anstehende 100. Geburtstag von Friedrich Dürrenmatt wird von der Öffentlichkeit, Wegbegleitern und dem Diogenes-Verlag aufwendig begangen. Den 10 Jahre älteren Max Frisch darob vergessen? Keineswegs. Auf SRF 2/Kultur sind Lesungen aus seinem Tagebuch 1946-1949 nachzuhören. Wieder entdecken macht Freude.
„Wer bin ich?“ Diese zentrale Frage zieht sich durch Max Frischs ganzes Werk. Sein erstes Tagebuch beinhaltet Reflexionen aus der Nachkriegszeit, lose Berichte und Aperçus ohne chronologische Zuordnung, die er auf seinen europäischen Reisen niedergeschrieben hat. Es ist auch eine literarische Werkstatt, auf denen später die Dramen „Graf Öderland“, „Andorra“, „Biedermann und die Brandstifter“, aber auch die Romane „Stiller“ und „Homo Faber“ angelegt sind. Sowohl stofflich als auch formal hält der Germanist Rolf Kieser Frischs Tagebuch für die „Keimzelle seines gesamten späteren Werks.“
suhrkamp taschenbuch 1148, Taschenbuch, 415 Seiten
ISBN: 978-3-518-37648-5
In einem knappen Vorwort wendet er sich wie folgt an eine potenzielle Leserschaft:
„Der verehrte Leser – einmal angenommen, daß es ihn gibt, daß jemand ein Interesse hat, diesen Aufzeichnungen und Skizzen eines jüngeren Zeitgenossen zu folgen, dessen Schreibrecht niemals in seiner Person, nur in seiner Zeitgenossenschaft begründet sein kann, vielleicht auch in seiner besonderen Lage als Verschonter, der außerhalb der nationalen Lager steht – der Leser täte diesem Buch einen großen Gefallen, wenn er, nicht nach Laune und Zufall hin und her blätternd, die zusammensetzende Folge achtete; die einzelnen Steine eines Mosaiks, und als solches ist dieses Buch zumindest gewollt, können sich allein kaum verantworten. Zürich, Weihnachten 1949
Die fünfteilige Lesung gibt es nun mit einem Click als Podcast nachzuhören:
Teil 1: «Tagebuch 1946-1949» von Max Frisch: 24:29 min, vom 05.11.2020
Teil 2: «Tagebuch 1946-1949» von Max Frisch: 23:10 min, vom 05.11.2020
Sprecher Michael von Burg im Studio von SRF Hörspiel
Teil 3: «Tagebuch 1946-1949» von Max Frisch: 22:21 min, vom 05.11.2020
Teil 4: «Tagebuch 1946-1949» von Max Frisch: 26:06 min, vom 05.11.2020
Teil 5: «Tagebuch 1946-1949» von Max Frisch
Das mosaische Bilderverbot hat Max Frisch dazu inspiriert, im Tagebuch folgende Erkenntnis, die er dann in „Andorra“ dramatisiert, festzuhalten:
Du sollst dir kein Bildnis machen
„Es ist bemerkenswert, dass wir gerade von dem Menschen, den wir lieben, am mindesten aussagen können, wie er sei. Wir lieben ihn einfach. Eben darin besteht ja die Liebe, das Wunderbare an der Liebe, dass sie uns in der Schwebe des Lebendigen hält, in der Bereitschaft, einem Menschen zu folgen in allen seinen möglichen Entfaltungen. Wir wissen, dass jeder Mensch, wenn man ihn liebt, sich wie verwandelt fühlt, wie entfaltet, und dass auch dem Liebenden sich alles entfaltet, das Nächste, das lange Bekannte. Vieles sieht er wie zum ersten Male. Die Liebe befreit es aus jeglichem Bildnis. Das ist das Erregende, das Abenteuerliche, das eigentlich Spannende, dass wir mit den Menschen, die wir lieben, nicht fertigwerden; weil wir sie lieben, solang wir sie lieben. Man höre bloss die Dichter, wenn sie lieben; sie tappen nach Vergleichen, als wären sie betrunken, sie greifen nach allen Dingen im All, nach Blumen und Tieren, nach Wolken, nach Sternen und Meeren. Warum? So wie das All, wie Gottes unerschöpfliche Geräumigkeit, schrankenlos, alles Möglichen voll, aller Geheimnisse voll, unfassbar ist der Mensch, den man liebt – Nur die Liebe erträgt ihn so.“