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Erzähle aus Deinem Leben!

Frau Prof. Brigitte Boothe (Bild), ehemalige Professorin für Klinische Psychologie der Universität Zürich, hielt im Rahmen des CAS «Gerontologie heute» ein Seminar zum Thema «Biographiearbeit – Theorie und Praxis des biographischen Erzählens» und führte danach ein Gespräch mit Seniorweb.

Frau Prof. Boothe, macht es ältere Personen glücklich, wenn sie aus ihrem Leben erzählen können?

Prof. Brigtte Boothe: Wenn es um gute Erinnerungen geht, auf jeden Fall. Dann können ältere Menschen die Vergangenheit oder das Ereignis, an das sie gerade denken und das im Erzählprozess entsteht, vergegenwärtigen. Sie leisten dabei auch eine sehr kreative Konstruktionsarbeit, die, und das wissen wir ja seit Jahrhunderten, auch ein Stück Verklärung ist und den Zuhörenden hoffentlich Vergnügen bereitet.

Gibt es beim Erzählen auch Problematisches?

Es kann sein, dass alte Menschen, – das haben wir bei unseren Forschungen an der Universität immer wieder erlebt – von kummervollen, unglücklichen Erlebnissen erzählen. Das ist auch sinnvoll, denn man will sich im Alter ja auch auseinandersetzen mit Situationen, in denen man, sagen wir mal, gescheitert ist. Vielleicht erinnert man sich an Entscheidungen, die man bereut, oder denkt traurig an geliebte Personen, die man verloren hat. Wir haben in unseren Forschungen die Erfahrung gemacht, dass sowohl positive wie negative Erlebnisse erzählt wurden, auch wenn man gar nicht nach den negativen gefragt hatte. Das ist wertvoll, denn die Tiefe einer biographischen Erinnerung lebt von beidem, also von dem, was einen bedrücken mag und dem, was Lichtpunkte sind.

Die Freude am Erzählen hängt ja sehr stark von der Erzählsituation ab. Ich stell mir vor, ein Idealfall ist, wenn ein Kind sagt: Grossmami, erzähl doch mal, wie es früher war. Aber wie sieht es in Pflegeheimen aus? Pflegende haben ja oft keine Zeit, sich Erzählungen der Bewohner*innen anzuhören.  Sollen sich die Bewohner*innen untereinander passende Erzählsituationen schaffen?

Nehmen wir mal an, man würde ein Erzählcafé einrichten. Das wäre Bildung auf einem sehr lebendigem Niveau. Natürlich sollte die Erzählrunde nicht zu gross sein und alle sollten das Erzählte hören können. Da könnte man ein Thema vorgeben, beispielsweise «Wie ist es dir ergangen, als du ins Heim gekommen bist?» Das ist für viele von grosser Bedeutung – so viel Heimat hinter sich zu lassen und hoffentlich im Heim eine neue Heimat zu finden. Das kann wechselseitig sehr bereichernd sein. Vielleicht bräuchte es eine Moderation, um allzu dominanten und allzu schüchternen  Erzählenden einen passenden Platz zu sichern.

Würden Sie auch Erzählcafés im Quartier, im Freundeskreis, im Seniorenverein gut finden?

Ja, oder in der Kirchengruppe, ja unbedingt, ich finde das eine gute Sache. Zumal Erzählen was Aktives ist, was man mit andern teilen kann. Man ist dann als alter Mensch nicht einfach nur Empfänger aller möglichen Wohltaten und fühlt sich ein bisschen klein, sondern man hat hier etwas zu geben. Und schon das ist ein gutes Argument für Erzählcafés.

Kann man Erzählsituationen einfach so organisieren? Braucht es da nicht eine schöne Grundstimmung, Geborgenheit, Vertrauen und vielleicht auch die Spontaneität, dass man erzählen will?  

Hier kann die moderierende Person als Eisbrecherin fungieren. Zudem sind bequeme Sessel, eine schöne räumliche Umgebung, wo man nicht gestört wird und genügend Zeit dem Erzählen sehr förderlich. In so einem Milieu kann der Erzähldrang, der Erzählwunsch von älteren Menschen sich wunderbar realisieren. Denken wir an das erste „Erzählcafé: das Decamerone von Boccacio, wo 10 vor der Pest (also in einer Pandemiesituation) in ein Landhaus geflüchtete Personen sich während 10 Tagen zu einem für jeden Tag bestimmten Themenkreis unter der Führung eines Tagesköngs oder einer Tageskönigin (Moderator/in) Geschichten erzählen. Einen Ort des Erzählens zu gestalten, kann viel bringen, und wenn die Mittel, eine günstige Atmosphäre zu kreieren, beschränkt sind, kann man immer noch auf das Mitteilungsbedürfnis der Teilnehmenden hoffen.

Oft fallen das gelebte und das erzählte Leben auseinander. Spielt es eine Rolle, ob die erzählte biographische Situation mit der Realität übereinstimmt?

Ein Erzählcafé ist keine Zeugensituation, also niemand muss einen historischen Bericht abliefern. Die Aufgabe ist, aus meinem Leben zu erzählen und wie ich mir mein Leben aneignen will; insofern wird dieser Aneignungsprozess vier Leistungen erfüllen: 1. die Vergegenwärtigung, so dass ich mich als historische Person fühle, die geworden ist und eine eigene Geschichte hat; 2. die Bewältigung, d. h. vieles im Leben ist schwer, war auch schwer, aber jetzt habe ich die Gelegenheit, dem sozusagen eine Form zu geben, sogar vor einem interessierten, mitfühlendem Gegenüber; 3. will ich beim Gegenüber für meine Erzählung auch Anerkennung finden, und das tut der andere, indem er sie annimmt; 4. Das Wunsch Erfüllende der Erzählung, so dass ich sagen kann, ja, ich hatte ein gutes Leben, das freut mich, auch jetzt freue ich mich noch, wie ich damals meinen Mann kennengelernt habe usw.

Und jetzt kommt die Frage nach dem autobiographischen Pakt, wie man das in der Biographieforschung nennt, also wenn eine innere Stimme sagt: «Moment mal, sei ehrlich, hab Respekt vor dem Gegenüber, das zu Recht die wahrheitsgetreue Wiedergabe wirklichen Geschehens erwarten darf; und hab auch Respekt vor dir selbst, stelle dich dem, wie es gewesen ist». »Diesen Mut, sagen die Zuhörenden oder Lesenden, musst du schon aufbringen, und diese Aufrichtigkeit verlange ich von dir, sonst fühle ich mich als Zuhörer düpiert und reingelegt. Ich will keine Lügenstories hören». Insofern ist der autobiographische Takt so etwas wie ein mitlaufender kleiner Monitor, der den Erzähler immer daran erinnert zu überprüfen, ob das wirklich so war. So versucht man einen Kompromiss zu schliessen zwischen dem, wie es gewesen hätte sein sollen und wie es gewesen ist. Und diese Arbeit ist sehr interessant und kann bedeuten, dass ich das, was ich vor vier Wochen erzählt habe, mir in der neuen Version wieder anders aneigne. Das ist in der Erzählforschung, wenn man Erzähltes und Wiedererzähltes vergleicht («Retelling»), sehr gut belegt.

Hat Erzählen eine Heilkraft, fördert es den Reifeprozess im Alter?

Gut erforscht ist, dass biographisches Schreiben heilsam ist. James Pennebaker hat seit den 80-Jahren sehr eindrückliche Resultate geliefert. Bei Schmerzsymptomen, anderen körperlichen Beschwerden und psychischen Belastungen ist biographisches Schreiben hilfreich. Die nachträgliche narrative Rekonstruktion verstörender Erfahrungen, traumatisierenden Geschehens in einem begleiteten Erzählprozess kann, wie Forschung und Praxis zeigen, hilfreich sein.  Als Therapeutin erfahre ich, dass Patienten, die bereit sind, begleitend in der Therapie auch etwas aufzuschreiben, davon sehr profitieren.  Das liegt am Gestaltungs- und Bewältigungsprozess beim Erzählen.

Biographisches Erzählen bedeutet eine persönliche Anverwandlung der Welt; es entsteht etwas, das ich gern als narrativen Kosmos bezeichne, der aus dem Darstellungs- und Gestaltungswillen eines individuellen Autors entsteht. Das eigene Befinden, das eigene Selbstverständnis, der eigene Identitätsentwurf wird auf diese Weise sichtbar.

Erzählen schafft Form und Gestalt, schafft immer wieder neu und anders Form und Gestalt; Erzählen kann auch eine Auseinandersetzung mit sich selbst sein, – allerdings kommt dann immer wieder hinzu, dass die erzählende Person aus dem Erzählen heraustritt, nachdenkt, kritisch reflektiert, am besten im Gespräch mit anderen.

Könnte man sagen, biographisches Erzählen fördert das Selbstverständnis, aber das Weltverständnis und das Verständnis von andern ist nicht mitgeschenkt.

Ja, genau, das ist nicht mitgeschenkt. Da muss ich mich zuerst aus meinen Geschichten hinausbegeben und richtig in die Welt hinausgucken und mich in die Welt hineinbegeben … und das ist sehr schön und manchmal sehr anstrengend.


Frau Prof. em. Dr. phil. Brigitte Boothe, ehemals Professorin für Klinische Psychologie am Psychologischen Institut der Universität Zürich, jetzt psychoanalytische Psychotherapeutin an der Gemeinschaftspraxis Bellevue, Zürich. Arbeitsschwerpunkte: Erzähl-, Traum- und Wunschforschung.

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6 Kommentare

  1. Seit rund acht Jahren bin ich als Moderatorin von Erzählcafés tätig und kann die wunderbare Wirkung, welche Frau Prof. Dr. Boothe beschreibt, bestätigen. Im Erzählcafé – und das bei ganz unterschiedlichen Themen – ist das Mäandern auf Spuren des eigenen Lebens, das Feststellen, Ordnen, Schätze ausgraben sehr lebendig wahrnehmbar. Es ist schön, wie viel gelebtes Leben zum Vorschein kommt, wie wohltuend es sich auf die Teilnehmenden auswirkt, wenn zugehört und Resonanz erfahren wird. Möchten Sie selber einmal an einem Erzählcafé teilnehmen? Auf der Webseite netzwerk-erzählcafé finden Sie die Veranstaltungshinweise. Aber Achtung… Erzählen ist sehr ansteckend!

  2. Der Artikel über «Erzâhlen» im Zusammenhang mit dem eigenen «Ich» finde ich super-interessant, schon deshalb, als ich meine gesamte Kindheit in der Schweiz erlebte, hierbei auch den 2.Weltkrieg aus den Zeilen des Nachrichtendienstes. /vorwiegend «Radio Beromünster». Meine Freunde waren alle ausnahmslos Schweizer, ein Teil davon aus der Schulklasse und weiterer Teil aus der «Knabenmusik der Stadt Zürich», der ich mittlerweile beigetreten war. Zuerst war ich ziemlich «militant» u.zw. «General» einer «Bande, jedoch teilte ich dann «Zch-Oberstrass» in einen Staat, bestehend aus der Hauptstadt «Hintenuse»(Hinterer Hof) und den angeschlossenen Staaten Rehlibrunne, Paulus-Chilihof,dazugehörend war dann auch ein «Wieseli» auf dem wir leidenschaftlich Fussball spielten,es mögen dann noch einige «Staaten» hinzugekommen sein. Dadurch erhöhte sich mein «Dienstgrad» von «General» auf «Prâsident. Diese «bescheidenen» Zeilen möchte ich an diesem Punkt abschliessen. Vielen Dank für meinen «kindlichen» Erzâhlungsvernsuch, so weit Sie ihn gelesen haben.

  3. Peter Wanzenried
    Die treffend dargestellten Wirkungen des Geschichtenerzählers können weitergeführt werden mit Playback-Theater. Was erzählt wurde, wird unmittelbar improvisiert auf die Bühne gebracht. Bewegungen, Worte, Musik lassen die Geschichte aus verschiedenen Perspektiven lebendig werden. Wer seine Geschichte mitgeteilt hat, erkennt plötzlich neue Aspekte. Eine Geschichte ruft die andere und es entwickelt sich eine Geschichtengemeinschaft. Es wird deutlich, dass jede Geschichte verschiedene Schichten von Wirklichkeiten umfasst. Ich selbst habe mehrere hundert Aufführungen an Familienfesten, in Firmen, Schulen, Heimen, Gemeinden usw. erlebt und die Wirkungen haben mich immer wieder überzeugt. Playback-Theater wird auf der ganzen Welt von unzähligen Theatergruppen gespielt.

  4. So ein Erzählcafe finde ich sehr gut.
    Ich habe in der Geriatrie gearbeitet und wir hatten keine Zeit den Menschen zu zuhören. Es wäre doch so wichtig. Gibt es irgendwo so ein Erzählcafe ?

    • Guten Tag, Frau Ursula Schütz
      In Winterthur gibt es so ein Erzählcafe
      Evtl. im Internet nachschauen.Ich war schon einmal dort..werde mich gleich mal informieren. Freundliche Gruss und gesegneten Advent von Gudrun Müller-Essen 8450-Andelfingen.

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