Mich der Unsicherheit anzuvertrauen habe ich beim Skifahren gelernt. Zu diesem sportlichen Vergnügen kam ich erst im «hohen» Alter von etwa 26 Jahren. Ich ging in Kurse, ich schloss mich Gruppen für Ausflüge in den Schnee an. Mein Sicherheitsbedürfnis, das sich durch Verkrampfung manifestierte, wurde ich aber lange nicht los. Auch beim Fahren auf harmlosen Pisten konnte ich mich nicht locker geben.
Mit der Zeit zählte ich meine vielen Stürze an einem Skitag schon gar nicht mehr. Es kam mir damals wohl zustatten, dass ich gleichzeitig Judo betrieb. Mein Körper wusste bei jeder Sorte Sturz, wie er auf die Erde beziehungsweise den Schnee zu fallen hatte. Trotzdem betrachte ich es heute noch als kleines Wunder, dass ich nie ernsthafte Verletzungen davontrug.
Mein Umfeld schätzte meinen Einsatz und schleppte mich trotz mangelndem Talent weiterhin auf gemeinsame Skiausflügen mit. Mit gutgemeinten Worten und ernsthaften Ratschlägen wurde nie gespart. Rückblickend will ich noch ein ganzes Füllhorn von Dankbarkeit auf meine damalige Gruppe ausschütten!
Wann der Durchbruch passiert ist, weiss ich nicht mehr. Jedenfalls ist es lange her. Ich erinnere mich an eine Woche Skifahren im Bündnerland. An einen recht steilen Hang mit vielen eisigen Buckeln, den ich jeweils nur mit Zittern und Zagen hatte überwinden können. Eines Tages gelang es mir, wie von selbst, nicht am Hang kleben zu bleiben, sondern mich hinauszulehnen und der Unsicherheit zu überlassen. Und siehe da, ich fuhr von Buckel zu Buckel ohne Sturz. Beschwingt und mit einem Glücksgefühl landete ich unten am Hang. Wiederholte das Hinunterfahren, es klappte jedes Mal besser. Der Lerneffekt war nachhaltig gewesen!
Dieses Erlebnis des Wählenkönnens zwischen einem festen Halt und einer unsicheren Alternative begleitete mich in der Folge mein ganzes Leben lang. Hatte ich nicht am eignen Leib erlebt, dass es nicht den Untergang oder das Ende eines Weges bedeutete, sich der Unsicherheit zu überlassen? Das Gegenteil war der Fall. Unsicherheit führte zu neuen Erfahrungen!
Und so versuchte ich, meine neugefundene Weisheit anderen weiter zu geben. Nicht immer mit Erfolg. Nicht immer gelang es mir, festgefahrene Situationen zu lockern. Durch Schaffen von Unsicherheiten im Weiterdenken den Boden für einen Neubeginn frei zu machen. Da konnte ich noch so subtil vorgehen. Das Dreifachargument war jeweils rasch zur Hand: «Das haben wir noch nie so gemacht», «Wo kämen wir auch hin», «Da könnte ja jeder (oder jede) kommen». Klassisch war der Satz: «Ohne Not soll Bewährtes nicht verändert werden».
Unsicherheit fühlte ich am Anfang auch beim Sprechen vor einer grossen Anzahl von Menschen. Ein Bekannter sagte mir nach einem meiner ersten Referate, ich hätte es gut gemacht. Nur müsste ich mich nicht so krampfhaft am Rednerpult festhalten. Es wolle mich niemand forttragen! Mit der Zeit merkte ich, dass mir das Publikum ja gut gesinnt war. Sie hatten mich eingeladen. Sie erwarteten von mir Information und Unterhaltung. Weil ich beides bieten konnte, spürte ich ihr Wohlwollen. So fühlte ich mich immer unbeschwerter bei öffentlichen Auftritten.
Natürlich erlebte ich auch meine negativen «Sternstunden». Einmal in einer Klasse von Polizeianwärtern, denen ich bei einer schriftlichen Prüfung einen zu schwierigen Fall vorgelegt hatte. Die zur Diskussion stehende Straftat war von einem Bezirksgericht und, nach Weiterzug, von dessen Obergericht, einem unterschiedlichen Straftatbestand zugeordnet worden. Das hatte wegen der angedrohten Strafe Konsequenzen.
Es war so, dass die eine Hälfte der Klasse urteilte wie das Bezirksgericht, die andere Hälfte wie das Obergericht. Ich erzählte ihnen das und lobte sie für ihre Arbeit. Die Klasse explodierte. Was mir einfalle, meinten sie, ihnen einen Fall zum Lösen zu geben, bei dem nicht einmal zwei Gerichte gewusst hätten, welches die richtige anwendbare Strafbestimmung sei. Und überhaupt würde ich ihnen immer mit neuen Gesichtspunkten den Boden unter den Füssen wegziehen, wenn sie meinten, sie hätten etwas begriffen. Das war dicke Post! Ich räumte ein, dass das Strafrecht keine einfache Sache sei. Dessen Kenntnis sei für Polizeibeamte aber grundlegend. Und schwor mir, beim Instruieren behutsamer vorzugehen. Eine zu grosse Unsicherheit konnte alles bereits Erarbeitete wieder zum Einsturz bringen.
Die wunderbarste Erfahrung der Unsicherheit war der Flug in einem Segelflugzeug, zu dem mich einmal ein Kollege eingeladen hatte. Wir überliessen uns den Strömungen der Luft, die uns aufsteigen liessen, die uns trugen, die uns auch wieder das Zurückkommen auf die Erde erlaubten. Wir begegneten grossen Vögeln, die uns als ihresgleichen betrachteten. Das war ein ähnliches Schlüsselerlebnis wie das Skifahren auf eisigen Buckeln. Auf einem höheren Niveau und nahe der wärmenden Sonne!