Elegantere, seltsamere Vögel hat garantiert noch niemand gesehen: «Das Buch der schrägen Vögel» von V. C. Vickers ist gerade zum ersten Mal auf Deutsch erschienen.
Bevor hier von Vincent Cartwright Vickers› fantastischen Zeichnungen die Rede ist, ein Wort zum Titel des Originals The Google Book: Mit der allgegenwärtigen Suchmaschine hat er nichts zu tun. Vickers› Buch erschien 1913 zum ersten Mal. Vermutlich hat der Autor google aus zwei Begriffen geschaffen, ein Wort für die Gurgellaute von Babys und ein Wort für eine unvorhersehbare Bewegung des Balls beim Kricket. Der Google war also auch damals ein Nonsense-Wort für das schrägste Wesen unter all den skurrilen Vögeln dieses Buches.
Mit dem Bild des Google endet nämlich die Parade exotischer, farbiger Wesen, der Google ist der einzige Nicht-Vogel, er hat anstelle eines Schnabels ein breites furchteinflössendes Maul und dicke Pranken, und so wird er auch vorgestellt: «Ich frag mich, ist’s – Ja!! Sicher ist’s der grässliche Google auf Beutezug!!!»
In diesem ausserordentlich sorgfältig gestalteten Buch lesen wir jeweils auf der linken Seite einen Vers von Vickers – spritzig und witzig– und auf der rechten Seite ist ein fantastischer Fabel-Vogel zu bewundern. Obwohl der Autor in einem kurzen Vorwort schreibt: «Weit, weit weg von hier lebt der Google, in einem Land, in das nur Kinder kommen können», bringt das Buch auch Erwachsene zum Lächeln oder zu lautem Lachen, zu komisch sind Verse und Zeichnungen, es ist englischer Humor von Feinsten.
Obwohl es keine festgelegte Reihenfolge gibt, – man kann ohne Verlust die Seiten durchblättern oder überspringen -, scheint der Autor die Vögel in einem Tagesablauf zu präsentieren. So beginnt er mit dem Garten von Google, anschliessend schreitet ein Vogel nach dem anderen daher, zuerst der Blauschnäblige Ork, dann der äusserst elegante Paddelfuss, der Rappel oder der Swank, der in der Übersetzung ‹Grosskotz› heisst. Der Bibberdödel, der auf Englisch The Shivver-Doodle heisst, hat einen sprechenden Namen, er lebt nämlich im eiskalten Meer und taucht nach Fischen, was der Autor ganz und gar nicht täte: » . . . er muss, aber ich nicht. Was bin ich froh!» – Da der Google erst abends auf Raubzug geht, rätselt die Lesende bis zum Schluss über sein Aussehen.
The Poggle (dt. «Der Rappel»), aus ‹The Google Book› von Vincent Cartwright Vickers, Erstausgabe 1913 / commons.wikimedia.org
Kurz gesagt, es ist ein kleines Juwel, das durch diese Erstausgabe des Reclam-Verlags dem deutschsprachigen Publikum zugänglich wird. Der Autor Vincent Cartwright Vickers war 33 Jahre alt, als sein Büchlein in einer Auflage von 100 Exemplaren erschien. Im Nachwort erfahren wird, dass Vickers die Verse erst auf Wunsch des Verlegers hinzufügte. Man vermutet, dass Vickers die Zeichnungen für seine Kinder angefertigt hatte und Verse dazu improvisierte. Unter Insidern in London wurde The Google Book mit den Jahren bekannt und geschätzt, so erschien 1931 eine zweite Auflage. Diese erste deutsche Ausgabe folgt der Erstausgabe von 1913.
Portrait Vincent Cartwright Vickers, Platindruck, circa 1910. / commons.wikimedia.org
V. C. Vickers wurde 1879 in London geboren und starb 1939 nach mehreren Erkrankungen. Er stammte aus einer Familie, die einen aufstrebenden Maschinenbau- und Rüstungskonzern führte, und erhielt schon früh selbst eine leitende Position in der Bank of England. In seiner Freizeit malte und dichtete er stets – und wandte sich 1919 von der Hochfinanz ab und widmete sich einer Bewegung zur Förderung von wirtschaftlichen Reformbestrebungen. Er interessierte sich – wen wundert’s – auch für Naturwissenschaften, besonders für Zoologie. Im empfehlenswerten Nachwort lesen wir, dass er als kenntnisreicher Amateurornithologe geschätzt wurde, der Vogelrufe präzise nachahmen konnte.
Das Buch ist zweisprachig konzipiert, das heisst, auf der linken Seite lesen wir oben das Originalgedicht, stets nur ein paar Zeilen, und darunter die Übersetzung von Harald Beck. Er hat sich vor allem als Übersetzer von James Joyce einen Namen gemacht. Seine Übertragung trägt ganz wesentlich dazu bei, dass dieses Buch zu einem besonderen Kunstwerk geworden ist. Die Kunst besteht ja darin, den Sinn UND den Witz ins Deutsche rüberzubringen. Das gelingt Harald Beck durchwegs. So können wir auch mit eingerosteten Englischkenntnissen den oberen Vers lesen und verstehen dann unten Inhalt und Komik.
Der Google, aus ‹The Google Book› von Vincent Cartwright Vickers, Erstausgabe 1913 / commons.wikimedia.org
Uns Google-Nutzerinnen und -Nutzern bleibt noch die Frage, ob die Erfinder der Suchmaschine das Wort bei Vickers gestohlen haben. – Nein. Die Informatiker, die diese Plattform schufen, suchten nach einem attraktiven Namen für ihr Werk. Er beruht auf einem Wortspiel, das Milton Sirotta erfunden hatte und das der Zahl 10100, d.h. einer Zahl Eins gefolgt von 100 Nullen, einen Namen geben sollte: googol. – So nüchtern und nicht mit dem poetischen Google-Buch zu verwechseln.
V. C. Vickers: Das Buch der schrägen Vögel (The Google Book). Englisch / Deutsch. Mit 44 Abbildungen. Übersetzung und Nachwort von Harald Beck. Reclam 2020.
ISBN 978-3-15-011279-3
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