Ich treffe ihn immer wieder an der Tramhaltestelle: Kurt*, einen ehemaligen Kadermann in einem internationalen Konzern, wovon er gerne erzählt, von seinen Reisen, seiner Durchsetzungskraft. Er erschien mir recht missmutig an diesem Morgen. Er steuerte gleich auf mich zu und hob an, dass der Entscheid des Bundesrates ihm gar nicht gefalle. Dem Berset sollten sie doch das Gesundheitsministerium endlich wegnehmen, wie dies die SVP fordere. Und überhaupt: Die NZZ habe es heute auf den Punkt gebracht. Die stehe wenigstens hinter Bundesrat Ueli Maurer, der sich gestern vor den Medien genervt gezeigt habe, der stehe Gott sei dank nicht hinter den Entscheiden des Bundesrates, vor allem nicht hinter Berset. Maurer habe Mut zum Widerspruch und die NZZ die Courage, das gut zu finden. «Hast Du den Tagi schon gelesen?» Die Redaktion des Tagesanzeigers, der wilde linke Haufen von der Werdstrasse, sei dafür, unterstütze den Bundesrat in seinen Corona-Entscheiden, gar Berset. Ich komme zunächst gar nicht zu Wort, obwohl ich gleich zweimal anhob, um etwas zu entgegnen. Als ich bei meinem dritten Versuch nur schon den Namen Berset erwähnte, überschüttete er mich mit einem Wortschwall sondergleichen.
Das 2-Tram nähert sich. Ich ziehe die Maske über. Er sieht mich erstaunt an und meint: „Diese blöde Maske, ich trage sie nur deshalb, weil ich ungestört Tram fahren will. Sonst ist sie doch überflüssig.“ Ich hebe noch einmal an, um darauf zu reagieren, dass wir uns gerade jetzt wegen des mutierten Virus ganz besonderes und unbedingt schützen müssten. Er winkt mit einer verächtlichen Geste und einem verärgerten Gesicht ab, dreht sich abrupt um und steigt nicht ins Tram ein; er ist sich meiner wohl überdrüssig, will sich nicht weiter mit mir unterhalten, um schon gar nicht auf Argumente eingehen zu müssen.
Ich steige ein, suche einen Einersitz und sinne darüber nach, warum wohl der sonst eher bedächtige Mann derart harsch reagiert. Ich kenne ihn schon sehr lange, wir trafen uns auf dem Schulhausplatz, wo unsere Kinder spielten, bei Quartierveranstaltungen, im Quartier-Café. Plötzlich fällt mir aber ein, dass wir uns schon mal heftig gestritten hatten, über Donald Trump. Wie er auf kein Argument eingehen wollte, auf seinem Standpunkt beharrte, kein Jota davon abrückte. Wäre er ein Trump-Wähler? Gehört er zu den Menschen, die im Stillen zu Verschwörungs-Theorien neigen? Ist er so gefangen in seiner politischen Haltung, dass es nichts anders gibt als seine Position?
Ich ziehe gedanklich Parallelen zu den Ereignissen in den USA. Können deshalb so viele Trump-Wähler nicht Abschied nehmen von ihrem Idol, weil sie so fest überzeugt davon sind, dass ihm Unrecht widerfahren ist, dass Joe Biden, die Demokraten ihm den Wahlsieg gestohlen haben, dass Fakten nur dann Fakten sind, wenn sie der eigenen Überzeugung entsprechen?
Die Demokratie lebt vom Widerspruch, lebt von der Auseinandersetzung. Sie überlebt aber nur, wenn die Argumente ausgetauscht werden können. Wenn wir in der Auseinandersetzung zur einer gemeinsamen Lösung finden.
Wie werde ich nächstens reagieren, wenn ich Kurt wieder an der Tramhaltestelle treffe? Werde ich ihm ausweichen, werde ich auf ihn zugehen und den Versuch unternehmen, doch mit ihm ins Gespräch, gar zu einer Diskussion zu kommen, bei der ich ihm zuhören und den Weg finden kann, dass er auch meinen Gedanken Beachtung zu schenken versucht? So sicher bin ich nicht. Sicher ist aber, dass Gespräche mit offenem Visier nötiger sind denn je, gerade in Zeiten der Corona-Krise. In einer Zeit, in der so viel Ungewissheit herrscht, wo aber auch vieles klar ist, was zur Eindämmung der Infizierung durch das Virus nützt: Maskentragen, Abstand halten, Kontakte einschränken und vor allem: sich impfen lassen. Und dass nicht verdrängt werden darf, dass den Unternehmen, die von den Massnahmen des Bundes betroffen sind, zu helfen ist. Der Bundesrat hat die Schatulle zu öffnen, ob das Ueli Maurer passt oder nicht. Denn die Schweiz kann sich, muss sich das leisten.
*Name geändert
«Die Demokratie lebt vom Widerspruch, lebt von der Auseinandersetzung. Sie überlebt aber nur, wenn die Argumente ausgetauscht werden können.»
In diesem Sinne:
Es scheint mir manipulativ und einseitig, einen den Corona-Einschränkungen gegenüber kritischen Geist, gleich in die Ecke der Verschwörungstheoretiker und Trump-Freunde zu schieben. Dies umso mehr jetzt, wo die Corona-Statistiken des Bundesamtes für Gesundheit BAG seit dem höchst Anfang November fast kontinuierlich zurückgehen:
– Anteil auf COVID-19 positiv Getestete: von gegen 30% auf ca. 10%
– Anzahl der Covid-19-infizierten Toten sank von 89 auf 46 (7-Tage-Durchschnitt)
– Anzahl Covid-19-infizierte in Intensivpflege sank von 525 auf 341
Reproduktionszahl von 1.77 (Ende Sept) sank auf 0.81 (9.1.21)
Und wenn es so kritisch ist, muss man sich fragen warum die Gesamtzahl der Intensivstations-Betten vom höchst Mitte Nov. bei 1127 auf unter 1000 abgebaut wurde? Und dies obwohl gefährliche neue Varianten im Umlauf sind? (was zu erwarten war, denn Viren mutieren über die Jahre)
(Alle Zahlen vom BAG, Stand: 19.1.21,
Quelle: https://www.covid19.admin.ch/de/overview?ovTime=phase2b)
Die vorhandenen Zahlen sind immer retrorespektiv. Die Bundesmassnahmen gelten für die unsichere Zukunft und berücksichtigen die Erfahrungen und Erkenntnisse der Vergangenheit.
Wenn ich bis heute seit einiger Zeit keinen Sturz tat, weil ich seit dem letzten Sturz vor Monaten vorsichtiger gehe, darf ich nicht daraus schliessen, morgen nicht einen fürchterlichen Sturz zu tun.
Was immer das Thema, die Sichtweise ist: der Kurt beschäftigt sich mit den aktuellen Themen – ein Senior welcher nicht nur im Sofa sitzt und wartet, sondern sich aktiv zum Zeitgeist Gedanken macht. Bravo Kurt !
«Er winkt mit einer verächtlichen Geste und einem verärgerten Gesicht ab, dreht sich abrupt um und steigt nicht ins Tram ein; er ist sich meiner wohl überdrüssig, will sich nicht weiter mit mir unterhalten, um schon gar nicht auf Argumente eingehen zu müssen.»
Wer sich auf diese Weise mit den aktuellen Themata beschäftigt verdient wohl nur von einseitig durch die Non-Informationsbrille Blickenden ein Bravo.
Ich bin auch ein Kurt. Mir ginge es gleich wie Anton Schaller. Abwenden oder meinen Namensvetter buchstäblich ins Tram zerren, um dort weiter zu diskutieren? Ich gebe es zu: Ich würde den Weg des geringsten Widerstades wählen und ihn auch stehen lassen. Vielleicht auf eine neue Gelegenheit warten und dannzumal meine Ansicht kund tun und sage, dass die Bundesbehörden einen guten Job machen und dass es alles daran zu setzen gilt, Bergamo-Verhältnisse zu vermeiden. Vielleicht habe ich dann mehr Glück und für einmal gilt: Aufgeschoben ist wohl aufgehoben, kann aber auch durchaus nützlich sein…
Uiii Toni, nicht erst beim Einsteigen ins Tram: «In folgenden Verkehrsmitteln und in folgenden Bereichen des öffentlichen Verkehrs müssen Sie eine Maske tragen: (…) Auf Perrons, Tram- und Bushaltestellen, auch wenn diese Bereiche draussen sind. (…) Beachten Sie, dass die Maskenpflicht unabhängig von der Auslastung des Verkehrsmittels gilt. » Schau gut zu dir! Liebe Grüsse Pesche