Die Todesursachenstatistik des BAG erfasst unter den ICD-10-Kodes X60–X84 nichtassistierte Suizide als «vorsätzliche Selbstbeschädigung». In 50 Prozent der Fälle erfolgen Angaben zu Begleitkrankheiten (z. B. Depression). Demgegenüber erscheinen assistierte Suizide in der Todesursachenstatistik als «Begleitumstand des Todesfalls». Ein Tod durch Suizid ohne Beihilfe wird demnach als ursächlich angesehen, der assistierte Suizid nicht. Bei einer Wertung der Suizidassistenz als Begleitumstand geht man implizit davon aus, dass die Selbsttötung im Zusammenhang mit einer unheilbaren und in absehbarer Zeit zum Tode führenden Erkrankung erfolgt ist. Die Suizidbeihilfe wird so als «Hilfe beim Sterben» und nicht als «Hilfe zum Sterben» betrachtet. «Hilfe beim Sterben» umfasst in der Schweiz sowohl die «passive Sterbehilfe», bei welcher lebenserhaltende Massnahmen unterlassen werden, als auch die «indirekt aktive Sterbehilfe», wenn lebenserhaltende Massnahmen abgebrochen oder Medikamente mit lebensverkürzender Wirkung gegen die Schmerzen abgegeben werden.
Bei der passiven Sterbehilfe und der indirekt aktiven Sterbehilfe soll der Sterbende von lebenserhaltenden Massnahmen verschont, aber nicht getötet werden. Eine Tötung wird dabei als eine moralisch anders zu bewertende Handlung angesehen. So wird auch das Unterlassen von lebenserhaltenden Massnahmen ausserhalb von Sterbesituationen als «fahrlässige Tötung» qualifiziert, z. B., wenn wir ein Kind in der Badewanne ertrinken lassen, obwohl wir seinen Tod hätten verhindern können. Vermeidbares Sterben ist fahrlässige Tötung, aktives Helfen bei einem unaufhaltsamen Sterbeprozess hingegen «indirekt aktive Sterbehilfe». Kann der Tod eines Menschen nach menschlichem Ermessen trotz lebenserhaltender Massnahmen nicht mehr aufgehalten werden oder tritt er überraschend ein, so ist er «Schicksal», in allen anderen Situationen «Machsal», wie Odo Marquard die beiden Begriffe treffend unterschieden hat, d. h. von uns selbst verursacht bzw. mitverursacht und deshalb moralisch zu verantworten.
Die Straffreiheit der passiven Sterbehilfe und der indirekt aktiven Sterbehilfe angesichts unaufhaltsamen Sterbens und angesichts des Todes basiert auf dieser Annahme schicksalhaften Versterbens. Doch auch die «Hilfe beim Sterben» wird durch den Autonomieanspruch des Patienten und die Einforderungsverbote begrenzt. So kann der Sterbende alle medizinischen Massnahmen ablehnen, Behandlungsabbruch und Behandlungsverzicht gelten in diesem Fall nicht als fahrlässige Tötung. Er kann aber weder lebensverlängernde Massnahmen, die nur den Sterbeprozess verlängern würden, noch Tötungshandlungen als vorsätzliche Selbstschädigung in Form von aktiver Sterbehilfe oder Suizidbeihilfe einfordern. In der Schweiz ist die aktive Sterbehilfe verboten, die Suizidbeihilfe hingegen straffrei, sofern der Sterbewillige urteilsfähig ist, die Suizidhandlung selber ausgeführt und diese freiwillig und ohne Druck geschieht. Diese Grenzziehung wird immer wieder mit dem Argument des Anspruchs des Individuums auf Selbstbestimmung kritisiert und ein Recht auf (Selbst-)Tötung gefordert. Die Kernfrage dabei ist, ob die Tötungshandlung als Beschleunigung des Sterbeprozesses vom Staat eingefordert werden können soll oder nicht. Bejaht man dies, stellt das Töten keine besondere Handlung mehr dar. Angesichts der Sterblichkeit des Individuums stellt sich dann sogar die Frage, ob der urteilsfähige Mensch seine Tötung nicht generell soll einfordern dürfen, sofern er dies freiwillig tut.
Das Abwehrrecht des Individuums gegenüber staatlichen Massnahmen ist in Anbetracht seiner Menschenwürde – ausser bei einer Fremdgefährdung – höher zu gewichten als der Lebensschutz. Die Freiheit zur Selbstschädigung, erfolge diese nun vorsätzlich oder nicht, stellt ein wichtiges Freiheitsgut des urteilsfähigen Menschen dar, unabhängig davon, ob er gesund oder sterbenskrank ist. Dahinter steht das Abwehrrecht gegenüber einem übermächtigen Staat. Individualethisch lässt sich deshalb ein Verbot der uneigennützigen und freiwilligen Suizidbeihilfe in einer pluralistischen Gesellschaft nicht begründen, was aber nicht heisst, dass Suizidbeihilfe oder aktive Sterbehilfe vom Staat eingefordert werden können sollen. Dieser unterliegt einem Tötungsverbot gegenüber der Bevölkerung, dem zum Schutz von schwachen und vulnerablen Menschen in einer Gesellschaft universelle Gültigkeit zukommt. In der Folge können in der Schweiz selbst Sterbende vom Staat keine aktive Sterbehilfe und keine Suizidbeihilfe verlangen und ist die Todesstrafe untersagt. Insofern erscheint die Klassifizierung der Suizidbeihilfe als «Begleitumstand» als mit den herrschenden gesellschaftlichen Wertvorstellungen nicht vereinbar. Diese gründen in dem Fall in der traurigen Erfahrung, dass der Mensch mit einer Tötungsoption nicht umgehen kann und diese stets zur eigenen Machterweiterung missbraucht hat und ihr eine inhärente Tendenz zur Ausweitung innewohnt. Diese zeigt sich auch bei der Suizidbeihilfe: Längst geht es dabei nicht mehr nur um eine «Hilfe beim Sterben», sondern auch um die «Hilfe zum Sterben» für das seines Lebens überdrüssig gewordene Individuum. So hat sich zwischen 2010 und 2018 die Zahl der Menschen, die mit Suizidbeihilfe gestorben sind, verdreifacht.
Angesichts dessen hat Dialog Ethik ein neues Positionspapier aus sozialethischer Perspektive für den Umgang mit Suizidbeihilfe und Sterbefasten geschaffen. Dem Staat kommt die Aufgabe zu, das Leben des Menschen zu schützen und diesen vor Vereinnahmung und sozialen Zwängen zu bewahren. Wir plädieren darum für ein Verbot der Werbung für Suizidbeihilfe. Menschen sollen nicht zum Suizid angeregt werden dürfen. Es stimmt nachdenklich, dass von den über 85-Jährigen heute etwa gleich viele durch einen Suizid wie an einer nicht mehr heilbaren Krankheit sterben.
Es geht darum, ob das Individuum seinen Tod als Schicksal annehmen muss oder diesen hinausschieben kann und hinausschieben will. In jedem Fall aber ist es achtsam und seiner Menschenwürde gemäss im Leben und im Sterben zu begleiten. Jede Form des Suizids, auch der assistierte, stellt nicht nur einen «Begleitumstand eines Todesfalls» dar. Diese Ausdrucksweise banalisiert die assistierte Selbsttötung. Eine Tötung ist die stärkste Form menschlicher Machsal gegenüber anderen Menschen und auch sich selbst gegenüber. Dahinter steht die Illusion, dem Schicksalshaften des menschlichen Lebens entrinnen zu können. Wird in einer Gesellschaft die Tötung zu einer normalen Handlung neben anderen, wird erfahrungsgemäss paradoxerweise die Machsal der Starken zum Schicksal der Schwachen.
Dr. theol. Ruth Baumann-Hölzle, Institutsleiterin von Dialog Ethik