Hannah Arendt kennen wir als kluge Philosophin, Soziologin und Publizistin. Ihre privaten, weitgehend unbekannten Seiten stellt uns Hildegard E. Keller in ihrem ersten Roman «Was wir scheinen» vor.
Was wissen wir von Hannah Arendt, die durch ihre Abhandlung über Ursachen und Konsequenzen des Totalitarismus viel Beachtung und Respekt erhalten hatte und die später nach ihrem Bericht über den Eichmann-Prozess in den 1960er Jahren nicht nur krasse Ablehnung erfuhr, sondern sogar Hasstiraden über sich ergehen lassen musste – von shitstorm würden wir heute reden. – Wer weiss schon, dass sie Gedichte schrieb? Und dass sie in ihren späten Jahren regelmässig ihre Sommerferien in der Schweiz, im Tessin verbrachte.
Hildegard Keller zeichnet die Facetten von Hannah Arendt nach, die nur im persönlichen Umgang mit ihr sichtbar wurden. Wir erkennen, wie wichtig Freundschaften für sie waren. Sie pflegte sie in Besuchen und in ihrer Korrespondenz. Beim Lesen dürfen wir nicht vergessen: Es ist keine Biografie, sondern ein geschickt aufgebauter Roman: Zwischen den Kapiteln, in denen die Autorin Hannah Arendts letzten Aufenthalt im Tessin beschreibt, erzählt sie von früheren Lebensstationen, angefangen bei der Emigration nach Frankreich, der Ankunft in Manhattan, Reisen nach Europa, Aufenthalten in Israel anlässlich des Eichmann-Prozesses und anderen Momenten ihres Lebens. Es geht dabei weniger um die damaligen Ereignisse, sondern darum, Hannah Arendt neu kennen und schätzen zu lernen. Was bleibt, ist ihre Treue zu allen, denen sie sich verbunden fühlte.
Seniorweb hatte Gelegenheit, der Autorin einige Fragen zu stellen:
Was hat Sie bewogen, gerade über Hannah Arendt einen Roman zu schreiben?
Hildegard E. Keller: Jeder glaubt, Hannah Arendt zu kennen. Mir ist die unbekannte-bekannte Hannah Arendt durch die Arbeit mit ihr ans Herz gewachsen. Sie ging auch deshalb nicht vergessen, weil sie sich gegen die Sturmböen ihrer Zeit gestemmt und weil ihr nach dem Erscheinen ihres Eichmann-Buchs lautstark und weltöffentlich Hass entgegengeschlagen war. Wie weiter? Mit der Frau, die mit dieser Frage leben musste, gehe ich in diesem Roman auf die Reise.
Und warum gerade einen Roman?
Ein Roman ist kein Käfig, in dem man eine Figur einsperrt, sondern ein Lebensraum für sie. Die Orte und Räume, auch alle anderen Figuren bilden die Welt, in die ich meine Hauptfigur Hannah Arendt stelle. Sie will handeln, fühlen, reagieren und sich was denken, zu dem, was hinter ihr liegt, aber auch zur Schweiz der Siebzigerjahre, in der sie gerade Ferien macht. Sie reist ins Tessin, um dort noch einmal durchzuatmen. Mir war wichtig, dass meine Romanfigur Zeit und Musse bekommt, um ungestört ihrem Innersten, Persönlichsten nachzusinnen – und was davon seit all dem Lärm wegen ihres Eichmann-Buchs noch da ist.
Hannah Arendt (Foto: The Hannah Arendt Center for Politics and Humanities)
Wie steht es mit den handelnden oder erwähnten Personen? Wie fiktiv sind sie?
Dieser Lebensraum fiel mir nicht in den Schoss. Weil es sich um eine historische Person handelt, musste ich ihn durch Recherchen erst erschaffen. Das war mir aus früheren Projekten vertraut, und nicht zum ersten Mal erlebte ich: Zwischen den beinharten Fakten einer Biografie gibt es Raum für Eskapaden. Das begeisterte mich! Auf ins Leben, aber mit künstlerischer Freiheit, sagte ich also auch zu Ingeborg Bachmann, Mary McCarthy und Hilde Fränkel, Walter Benjamin, Kurt Blumenfeld und natürlich ihrem Mann Heinrich Blücher. Sie gehören zum Umfeld der historischen Hannah Arendt, aber sie (und andere reale Figuren) sind fiktionalisiert. Daneben gibt es fiktive Figuren. Die Rotkehlchen sind nicht erfunden.
Der Eichmann-Prozess und Arendts Buch «Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen» nehmen einen wichtigen Platz ein. Warum?
Ja. In meinem Roman geht es um Arendts Auseinandersetzung mit einer Wirklichkeit, mit der sie als 26jährige konfrontiert wurde, 1933. Mein Roman rollt die Vorgeschichte auf, wie und warum sie als Gerichtsjournalistin nach Jerusalem kam, aber was nach ihren Reportagen im New Yorker geschah, ist eine Frage, die ich nur in einem Roman erkunden konnte. – Was für einen Preis bezahlt die Hauptfigur?
Ein wunderbarer Schmuck des Romans besteht für mich in den eingestreuten Gedichten. Stammt der Buchtitel auch aus einem Gedicht?
Ja, der Titel «Was wir scheinen» entstammt einem von Arendts Gedichten. Die Poesie ist aber weit mehr als nur Zier, sondern führt zum dunklen Herzen des Romans. Zum ganzen Menschen Hannah Arendt, wie ich ihn in meinem Roman zeichne.
Zu den intensivsten Kapiteln gehört für mich der Besuch von Ingeborg Bachmann bei Hannah Arendt in New York. Fiktiv?
Die historischen Personen kannten einander nur flüchtig. Das hat Potenzial, fand ich, für die Darstellung beider Frauen. Im Roman leben sie ein Stück weit eine Freundschaft, die in der Wirklichkeit abgebrochen ist.
Haben Sie den Dialog zwischen den beiden Frauen bewusst als Höhepunkt des Romans geschrieben?
Die Freundschaft der beiden Frauen, die sich durch die zweite Hälfte des Romans zieht, lag mir am Herzen. Ich habe Ingeborg Bachmann bewusst als wichtigste Nebenfigur gewählt (im Leben der historischen Arendt kam diese Rolle eher der amerikanischen Dichterin Mary McCarthy zu, die in Frankreich lebte). Auch habe ich Arendt und Bachmann bewusst ins Leben gestellt. In der Frühstücksszene in Arendts Wohnung erzählen sie einander in der Küche von ihren Männern und wie sie ihre Wohnungen in Manhattan bzw. Rom ergattert haben, sie diskutieren über Eichmanns Sprache, über das Täter- und Opferdenken nach dem Krieg und Bachmanns Abschied von der Lyrik. Beide waren Zeitdiagnostikerinnen, schätzten und praktizierten das poetische Denken. In Amerika würde man sie «kindred spirits» nennen. Das Wichtigste für mich war aber das Timing. Die historische Arendt lernte die Bachmann genau dann kennen, als sie sich endlich wieder mal hinter ihre Jerusalem-Reportagen setzen konnte. Deshalb geht den beiden in meinem Roman der Gesprächsstoff nicht aus!
Hildegard E. Keller (Foto: Ayse Yavas)
Welche Leserinnen bzw. Leser wünschen Sie sich?
Romanleserinnen und -leser. Menschen, die über den Roman mit Hannah Arendt, Ingeborg Bachmann, Karl Jaspers, Dr. Cox und all den anderen ins Gespräch kommen wollen. Arendt-Interessierte, die vor neuen Dimensionen von Wirklichkeit nicht zurückschrecken. Menschen, die Ermutigung suchen, mit ihren Talenten und ihrer Herzenswärme nicht zu geizen. Menschen, die Freude an der Lebensreise einer starken, empfindsamen und letztlich unbeugsamen Frau haben.
Vielen Dank für dieses Gespräch.
Hildegard E. Keller, geb. 1960 in Sankt Gallen, schuf Theaterstücke, Hörspiele und Filme, die bekannte und vergessene Frauen und ihre Werke in Erinnerung rufen. Bereits während ihres Studiums der Literaturwissenschaften und Soziologie begann sie zu schreiben, Theater und Druckgrafik zu machen. Seit 2001 ist sie Professorin für Literatur, zehn Jahre davon in den USA an der Indiana University in Bloomington; heute lehrt sie Multimedia-Storytelling an der Universität Zürich. Gemeinsam mit Christof Burkard führt sie die «Edition Maulhelden» und verbindet darin Literatur und Kulinarik.
Hildegard E. Keller: Was wir scheinen. Roman. Eichborn Verlag 2121. 576 Seiten. ISBN: 978-3-8479-0066-5
Titelbild: Portrait von Hannah Arendt als Wandbild im Hof ihres Geburtshauses am Marktplatz, Linden-Mitte (Hannover). Daneben ein Satz, der sie berühmt gemacht hat: «Niemand hat das Recht zu gehorchen» (Nobody has the right to obey). Im August 2014 fertiggestellte Auftragsarbeit der hannoverschen Graffiti-Künstler Patrik Wolters und Kevin Lasner. / Bernd Schwabe / commons.wikimedia.org
Ein bei aller inhaltlichen Tragik spannend zu lesendes Buch, das diese streitbare, umtriebige Frau gut darstellt. Schade, dass auf ihre merkwürdige, ja verstörende Liebesbeziehung und deren Hintergründe mit Martin Heidegger nicht näher eingegangen wird, auch wenn dieses «Thema» andernorts schon verschiedentlich abgehandelt worden ist.