Nicht minder und nicht mehr fordert der deutsche Philosoph und renommierte Buchautor Richard David Precht in seinem neuesten Buch «Von der Pflicht»*. Im Gegensatz zum Sozialjahr, das er für die jungen Menschen vorschlägt, sollen sich die Menschen ab der Pension auch, aber nur etwa 15 Stunden in der Woche, während eines Jahres verpflichten.
Vom Begriff der «Pflicht», so angegraut und wie ein Wort aus dem 19. Jahrhundert dieser ist, hätten sich die modernen Gesellschaften immer weiter entfernt. Das Wort sei aber auch und gerade im 21. Jahrhundert nicht von gestern, sondern gerade jetzt in der Corona-Zeit, so aktuell und notwendig wie nie zuvor, schreibt der 57jährige Autor. Das Wort «Pflicht» in seinem alten und mittelhochdeutschen Ursprung stehe für Fürsorge und Obhut, für die Teilnahme und für den Dienst an der Gemeinschaft. Jede Haltung, die wir im Umgang mit dem Virus Covid-19 einnehmen, sei keine rein private Angelegenheit mehr; sie sei Teil der Ethik, Teil des Zusammenlebens und insofern eine Pflicht und eine Verpflichtung. Der moderne liberal-demokratische Staat habe nicht nur das Recht, Regeln und Massnahmen zum Schutz von Millionen Gefährdeter und Schwachen, von uns allen also, zu verordnen, sondern die Pflicht, es auch zu tun.
Precht setzt sich in seiner «Betrachtung von der Pflicht» auch mit dem Kapitalismus auseinander. Der neue Kapitalismus sei nicht offen brutal und menschenverachtend wie der Manchester Kapitalismus des 19. Jahrhunderts, aber mindestens ebenso konsequent, wenn es darum gehe, unbegrenzt Zugriff auf die Menschen, insbesondere auf ihre Daten zu gewinnen und sie unentgeltlich zu nutzen.
Precht lehnt sich auch an alte, renommierte Philosophen an, beispielsweis an Alexis de Tocqueville, der schon im 19. Jahrhundert an der Wiege der Demokratie schrieb: «Je mehr der Wohlstand steigt, umso unpolitischer werden die Menschen». Gerade heute seien wir geprägt von einem immer «Schneller, Höher, Weiter und Mehr». Precht wird ganz konkret, wenn er darauf hinweist, dass heute selbst Unternehmen in staatlicher Hand wie die Bahn nicht davon zurückschrecken, Preise und Tarife in der Weise laufend zu manipulieren, dass diejenigen, die Zeit und Lust haben, das günstige Angebot sofort und rechtzeitig zu schnappen, laufend zuungunsten der anderen profitieren würden. Statt eine Solidargemeinschaft sei so eine Gesellschaft der Gierigen, der Profiteure geschaffen worden. Vor allem ältere Menschen, die nicht so internetaffin seien, würden so ausgegrenzt. Die dadurch entstandene Vorteilsgesellschaft würde die Werte des Bürgertums, wie Treue, Fairness und Verlässlichkeit, geradezu verhöhnen.
Precht weiss, dass sich nicht alle älteren Menschen ein Pflichtjahr auch leisten könnten, deshalb müsste die Altersvorsorge ein existenzsicherndes Grundeinkommen garantieren. Precht weiss auch um die Chancen, die sein Vorschlag für ein soziales Pflichtjahr für junge Menschen, aber auch für Menschen im Pensionsalter in Deutschland hat: gleich Null. Erst wenn auch kleine Länder in Europa wie Niederlanden, Skandinavien es eingeführt hätten, würde auch Deutschland nachziehen.
Und wir in der Schweiz? Wir kennen im Gegensatz zu Deutschland die militärische Dienstpflicht noch. Für junge Menschen, die nicht Militärdienst leisten wollen oder können, gibt es den Zivildienst. Wir haben mit der AHV eine erste Säule, die aber in Zukunft dafür zu einem Grundeinkommen ausgestaltet werden müsste. Wir haben eine lange Tradition der ehrenamtlichen Tätigkeiten bei der Pro Senectute, Pro Juventute, Pro Infirmnis, beim Schweizerischen Roten Kreuz, bei Vereinen und Institutionen des Sports, der Jugendverbänden. Tausende Grosseltern betreuen Enkelkinder, damit deren Eltern berufstätig sein können, entlasten die Gesellschaft im Milliardenbereich. Wir haben also die besten Voraussetzungen dafür. Noch ist alles freiwillig. Das Pflichtjahr hätte den Vorteil, dass alle einbezogen, alle einen Dienst an der Gemeinschaft leisten würden. Zumindest könnte das Engagement steuerlich begünstigt werden.
Und immer wieder gibt es Initiativen, einen allgemeinen Gemeinschaftsdienst auch für Frauen einzuführen. Die meisten Versuche versandeten, bevor sie zu realen Projekte gediehen. Eines ist aber für unsere Zukunft unabdingbar: Liberale demokratische Gesellschaften sind auf Tugenden wie «Gerechtigkeitssinn, Fairness, Masshalten, Gemeinsinn und Selbstdisziplin» angewiesen, wie Precht schreibt. Der Staat kann die Tugenden nicht verordnen. Wir alle können uns aber ihrer Bedeutung bewusstwerden. Wir können sie als Demokraten hegen und pflegen und vor allem: dafür werben, öffentlich einstehen.
*Richard David Precht: «Von der Pflicht – Eine Betrachtung», erschienen im Verlag Wilhelm Goldbach München.
Obwohl die Staatsquote in allen europäischen Ländern steigt, ist Herr Precht der Meinung, dass » alle Generationen die vom zunehmend überforderten Staat offen gelassenen Lücken füllen» müssten. Nun, wenn ich mich in meiner älteren Verwandt- und Bekanntschaft umsehe, fehlt es nicht an meist unentgeltlichem sozialem Engagement, sei es in kulturellen oder sportlichen Vereinen, sei es bezüglich Alters-, Kinder- und Enkelbetreuung oder aber auch vor allem in politischen Parteien oder in Event-OK, die ohne Mitwirkung von Pensionierten kein Dasein mehr hätten.
Die Forderung Prechts nach einem sozialen Pflichtjahr für Pensionierte stösst deshalb offene Türen ein, ja ist in unserem Land wohl in jahrzehnter Form erfüllt
Ja Danke für die Idee! Wir Frauen haben genug Doppel- Drei- Vierfachsozialarbeit. Während der Kinderjahre darf Frau auswärts arbeiten und zu Hause alles organisieren. Möchte sie zu Hause bleiben, wird sie im Alter finanziell bestraft. Sind die Kinder ausgeflogen, wer schaut den Eltern und Schwiegereltern? Zudem kommen noch die Enkelkinder, die auch gern mit der Grossmama zusammen sein möchten. Daneben arbeiten viele Männer und Frauen in sozialen Instituten oder in Sportvereinen, auch bei vielen kulturellen Anlässen usw. Also was sollen wir noch mehr tun. Ein Pflichtjahr für die Schweiz sehe ich nicht.
Jeder und Jede hat sie Aufgabe sein/ihr Land im Gefahrfall zu schützen. Da kann es keine Ausrede geben.
Daher ist eine geschlechtsunabhängige Wehrpflicht nicht zur sinnvoll sondern eigentlich eine Grundsäule eines demokratischen Staates.
Soziales Engagement hingegen lebt geradezu von der Freiwilligkeit.