Auch wenn sich erste Silberstreifen am Corona-Horizont zeigen und Hoffnung auf Öffnungen auf breiter Front aufkommen, haben die auferlegten Einschränkungen überall schmerzliche Spuren hinterlassen, auch in den Kirchen. Seniorweb hat sich mit dem Domkapellmeister St. Gallen, Andreas Gut, über seine Erfahrungen und Notmassnahmen als Kirchenmusiker unterhalten.
Andreas Gut, Sie sind 2016 sehr ehrenvoll zum Domkapellmeister in St.Gallen gewählt worden, nachdem Sie fast zwanzig Jahre als Kirchenmusiker, Chorleiter und Organist Ihren Wirkungskreis im zürcherischen Küsnacht erfolgreich entfalteten. Sie stehen damit in der Tradition des unvergessenen Johannes Fuchs, der das Amt ab 1945 während 33 Jahren inne hatte, gefolgt von Roland Bruggmann und Hans Eberhard. Was bedeutete Ihnen diese Ernennung?
Andreas Gut: Die Büros der ‚DomMusik‘ befinden sich zwischen Galluskapelle und Chor der Kathedrale. Am Platz der Galluskapelle fiel der Heilige Gallus 612 hin und deutete den Sturz als Zeichen Gottes, diesen Ort, damals ein Waldstück nahe dem wilden Steinachtobel, als seine geistliche Wohn- und Wirkungsstätte zu wählen. Unterhalb des Hochchores, in der Galluskrypta, fand er seinen letzten Ruheort.
Die Stiftskirche St. Gallen, Dom genannt, wurde von 1755-1772 in Etappen errichtet. Sie dient dem Bistum als Kathedrale.
Betrete ich dann die Kathedrale, den Dom St.Gallen, erinnert diese auf Schritt und Tritt an ihre 1600-jährige klösterliche Vergangenheit. Sogleich wird mir bewusst, dass mir für ein paar Jahre die Aufgabe der Kirchenmusik an einem Ort anvertraut wurde, der grösser ist als ich. Dass ich an dieser wunderbaren Wirkungsstätte meine Talente einbringen, die Musikkultur mitprägen und gestalten darf, erfüllt mich mit Freude und spornt mich an.
Auf Ihrer Hompage ist zu lesen: «Kirchenmusik ist seine Passion: Mit Herz und Leidenschaft stellt Domkapellmeister Andreas Gut seine reiche kirchenmusikalische Erfahrung in den Dienst der DomMusik… Er freut sich an der anspruchsvollen Aufgabe, die passende Chormusik für jede Feier zu finden – von alt bis modern; mit Orgelbegleitung, mit Orchester, mit Bläsern oder a cappella. Sein Herzensanliegen ist es, Menschen im Gottesdienst zum Singen zusammenzubringen – zum Lob Gottes.“ Was bedeutet das für Sie in Corona-Zeiten, wo die Chöre Gesangsverbot haben?
Durch Corona hat sich meine Arbeit stark verändert. Unsere geschätzten Laien-Ensembles dürfen nicht mehr singen und wir alle warten sehnlichst auf die Aufhebung dieses Verbotes. Da Gottesdienste an der Kathedrale jederzeit stattfinden, plane ich die Musik im erlaubten Rahmen. Während des ersten Lockdowns von März bis Mai 2020 waren Gottesdienste mit fünf Teilnehmenden erlaubt. Täglich produzierten wir früh am Morgen einen Gottesdienst im Livestream mit Zelebrant, eventuell Predigerin/Prediger, Ministrantin/Ministrant, Lektorin/Lektor, mir als Kantor und dem Domorganisten. Ende Mai 20 waren dann öffentliche Gottesdienste mit einer Anzahl Mitfeiernder nach Grösse des Kirchenraumes möglich, und ich durfte mit bis zu fünf professionellen Musikerinnen und Musikern die allsonntäglichen Gottesdienste gestalten.
Domkapellmeister Andreas Gut / Fotos © Regina Kühne
Von Mitte August bis Ende Oktober durften unsere Laien-Ensembles mit Hygienekonzept und Abstandsregeln proben und Gottesdienste gestalten. Wir haben die Proben in kleine Gruppen aufgeteilt und einzig im Chor der Kathedrale, wo bei uns selbst 70 Personen mit 2 Metern Abstand singen können, im ganzen Chor gesungen – noch kurz vor dem zweiten Lockdown, am Gallustag, 16. Oktober, mit Paul Hubers Messe zu Ehren des Heiligen Gallus.
Erst das Gesangsverbot für Laien-Chöre Ende Oktober, dann das allgemeine Singverbot Anfang Dezember veränderte die Kirchenmusik an der Kathedrale gänzlich. Kantorinnen und Kantoren tragen nun nicht nur die Gesänge zur Verkündigung, also Antwortpsalm und Ruf vor dem Evangelium, vor, sondern sie interpretieren nun stellvertretend für die Gottesdienstgemeinde die Liedbeiträge aus dem Gesangbuch. Die Gemeinde schätzt den Kantorendienst sehr, hört sie auf diese Weise doch wenigstens die vertrauten Gesänge. Die Gläubigen stumm zuhören zu sehen, trifft mich persönlich sehr – den Menschen das Singen zu verbieten, empfinde ich heute noch als einen zutiefst in die Grundrechte und in die Kultusfreiheit eingreifende Massnahme. Nie hätte ich das für möglich gehalten.
Da unsere Laienensembles und die Gemeinde nicht mehr singen durften, gestaltete nun allsonntäglich die Capella Vocale in unterschiedlicher Besetzung den Gottesdienst um 10.30 Uhr musikalisch mit. Der Not geschuldet singt sie Teile des Ordinariums und ergänzt das Programm mit thematisch passenden Motetten. Für Instrumentalisten gilt keine Begrenzung. So konnten wir hohe Feiertage auch mit Musik für Gesangsensemble, Solisten und Orchester oder Bläsergruppen gestalten.
Barocke Pracht in Vor-Corona-Zeiten
Die DomMusik ist also coronabedingt und für die Dauer der Pandemie professionalisiert. Wir können damit vielen Sängerinnen und Sängern in diesen schweren Zeiten zu etwas Arbeit verhelfen. Die Musik ist auf sehr hohem Niveau, das macht Freude, doch vermisse ich die sonst regelmässigen Chorproben, das wöchentliche Wiedersehen, die Arbeit mit vertrauten, wunderbar engagierten Laienchorgruppen sehr. Ich hoffe, dass dieser Zustand bald ein Ende nimmt.
Zu meiner Leidenschaft als Kirchenmusiker: Ja, die musikalische Gestaltung von Gottesdiensten ist meine Passion: Für jeden Sonntag und jeden Feiertag möglichst passende Musik vorzusehen, zu proben und damit die Liturgie musikalisch zu gestalten, erfüllt mich innerlich. Ob es sich dabei um eine Orchestermesse, eine a cappalla gesungene Motette, die Musik für einen Gottesdienst mit Familien, es sich um Musik aus Renaissance, Barock, Romantik, der Moderne oder der Neuzeit handelt, ist mir weniger wichtig. Hauptsache ist der Charakter, die Stimmung der Liturgie, also die Verbindung von Musik und Wort, sie ergänzen und fügen sich zu einem sinnstiftenden Ganzen.
Nun hat der Bundesrat Lockerungen für Chöre bekanntgegeben. Das Singen mit Laien-Chören und Gruppen bis zu 15 Personen mit Maske und Abständen ist nun wieder erlaubt. Was bedeutet das für Sie?
Proben sind zwar erlaubt, doch die Auflagen verunmöglichen einen eigentlichen, sinnvollen Probenbetrieb. Jegliche zeitliche Perspektive für weitere Öffnungsschritte, die eine Form von Planung ermöglichen würden, fehlt. Ein Neustart beim Singen mit Chören ist auf diese Weise zurzeit nicht wirklich möglich.
Wir bieten daher seit Februar Einzel-Sing-Zeiten für die Sängerinnen und Sänger der DomMusik an. Online können sie sich einen Zeitabschnitt von 20 Minuten reservieren. Professionelle StimmbildnerInnen proben mit den Singenden Literatur, beantworten Fragen, helfen Einsingübungen für zu Hause individuell herauszusuchen u.v.m. Pro Woche können so bis zu 41 Mitglieder unserer Chöre von den Sing-Zeiten profitieren. Seit Ende April ist aufgrund der moderaten Lockerungen eine Gruppen-Sing-Zeit für drei Personen in einem ausreichend grossen Raum möglich. Die Angebote sind für unsere Ensembles kostenlos und werden vom Dompfarramt, dem Verein DomMusik und dem Verein DomChor finanziert. Ich bekomme viele begeisterte Rückmeldungen, was mich sehr freut.
Sie haben Ende Oktober 2020 in einem offenen Brief an Bundesrat Alain Berset Ihrer Sorge vor einem neuen kirchenmusikalischen Lockdown Ausdruck verliehen. Weshalb? Erhielten Sie überhaupt eine Antwort?
Die Entwicklung lag in der Luft, der Bundesrat hatte seine Absichten teils angekündigt. Ich las davon auf Facebook und habe an einem Sonntagnachmittag den Leserbrief geschrieben, mich mit Dompfarrer Beat Grögli und der Journalistin Bettina Kugler abgesprochen und dann den offenen Brief ans BAG und an mir bekannte Zeitungen gemailt und auf Facebook gepostet. Enorm viele unterstützende Zuschriften erreichten mich auf allen Kanälen. Dann, kurz vor Weihnachten, wurde jedoch das Ausmass des Verbots vielen erst bewusst und sie realisierten, dass gemeinsam öffentlich gesungene Weihnachtslieder und Weihnachtsfeiern in Kirchen in gewohnt grossem Rahmen nicht möglich sein würden. Unsere Leute an den Eingängen zur Kathedrale, die unangemeldete Personen von den Weihnachtsgottesdiensten zurückweisen mussten, taten mir echt leid. Ich beabsichtigte mich einerseits gegen das drohende Singverbot zu wehren, andererseits auf die Existenz bedrohenden finanziellen Ausfälle der KünstlerInnen hinzuweisen. Aus Zürich bekam ich einen Brief mit hässlichen Beschimpfungen. Den Brief bewahre ich als Mahnung auf. Weder von Bundesrat Berset noch vom BAG bekam ich je eine Antwort.
Einblick in die Orgelempore mit Chor und Orchester während einer feierlichen Messe
Sie stehen am Dom insgesamt 12 Chören und Ensembles vor. Wie ist dieses Pflichtenheft überhaupt zu bewältigen?
Die Leitung der DomMusik ist ein Fulltimejob. Einen freien Tag habe ich nicht. Aber ich leite nicht alle Ensembles selbst. Die Domsingschule gehört zur diözesanen Kirchenmusikschule und wird, gemeinsam mit Cantus iuvenum, von Frau Anita Leimgruber-Mauchle geleitet, die Frauen-Choralschola von Frau Rita Keller. Die übrigen Ensembles sind mir anvertraut. Zu meinen Aufgaben zählt die Jahresplanung der Ensembles, die Chorproben, Gottesdienste und Konzerte, gemeinsam und in Absprache mit Dompfarrer Beat Grögli und Domorganist Willibald Guggenmos, Raumreservation, Noteneinkauf und Notenarchiv, Publikation, Werbung und Medien, Budget, Anstellung und Abrechnung der OrchestermusikerInnen und SolistInnen, Leitung und Planung des Sekretariates und der mitarbeitenden Musiker am Dom, Planung der Gastensembles, musikalische Leitung der Bistumssingtage und Kirchenmusikwochen, etwas Unterricht an der Diözesanen Kirchenmusikschule (dkms) sowie die Mitarbeit in diversen Gremien und Vorständen. Langeweile kenne ich nicht. Meine Passion kann ich als Beruf ausüben, das ist Arbeit und macht mich glücklich. Etwas bewegen können, vorwärtsbringen, das entspricht mir.
In meiner schriftlichen Interviewanfrage hielten Sie fest: «Resignieren ist keine Lösung.“ Trotzdem sehnen Sie sich wie all Ihre Singenden und Musizierenden und auch die Kirchenmusikfreunde der DomMusik auf das Plazet aus Bern, endlich wieder uneingeschränkt proben und auftreten zu dürfen. Worauf dürfen wir uns freuen?
Der zeitliche und organisatorische Aufwand ist seit einem Jahr enorm. Die Lockerungen dieser Tage erscheinen mir trügerisch, eine Prognose aufgrund der unterschiedlich ausfallenden Verlautbarungen von Seiten der Wissenschaft und Politik sehr gewagt. Ja, resignieren ist keine Lösung, aber diese langanhaltende Phase der Einschränkungen zehrt gewaltig an den Kräften. Mit unserem Streaming-Angebot auf www.bistumsg-live.ch, auf youtube, facebook und instagram verbreiten wir jedoch ein vielbeachtetes Zeichen der Hoffnung. Unsere Gottesdienste und Konzerte werden im gesamten deutschsprachigen Raum und in vielen Ländern der Erde geschaut. Wir bekommen viele ermutigende Zuschriften, das hilft uns allen weiterzumachen. Sobald unsere Ensembles singen dürfen, werden wir wieder regelmässig proben. Ein Sonntag oder gar ein Feiertag wird dann sicher in Reichweite sein und wir werden auf der Empore der Kathedrale stehen und singen. Gottesdienste und Konzerte werden dann rasch folgen.
Das österliche Halleluja, ich meine natürlich das aus Händels Messiah, wurde uns nun bereits zum zweiten Mal genommen. Im ersten Gottesdienst mit unseren Chören und dem Orchester werden wir das Halleluja singen und musizieren und uns mit diesem Auferstehungs-Jubelgesang musikalisch zurückmelden. Darauf freue ich mich bereits heute.
Seit März letzten Jahres singe ich jeden Tag auf YouTube bei «Einsingen um 9». Das kann ich allen Sängerinnen und Sängern aller Chöre wärmstens empfehlen. Die Stimme bleibt in Form für hoffentlich baldige gemeinsame Proben. einsingen-um-9.ch
Barbara