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Was braucht’s im Alter bei Unterstützungsbedarf?

Thomas Diener (Bild), der Vorsitzende der Geschäftsleitung der Pro Senectute des Kantons St. Gallen, unterhält sich im Gespräch mit Seniorweb über Fragen guter Betreuung im Alter.

Beat Steiger: Thomas Diener, Sie sind seit 32 Jahren für die Pro Senectute SG in unterschiedlichen Funktionen tätig und haben sich dabei auch intensiv mit dem Thema Hilfe und Betreuung im Alter auseinandergesetzt. Was fällt Ihnen beim Stichwort «Betreuung» ein?

Thomas Diener: Der Begriff der Betreuung hat ein «Gschmäckle». Er hat sich in der «Kinderbetreuung» gut etabliert, wenn man Kinder in ihren Alltagssituationen unterstützt. Aber Betreuung von alten Menschen? Sie sind ja erwachsen. Kann man da für Unterstützungsleistungen von Betreuung sprechen? Insbesondere durch das Engagement der Paul Schiller-Stiftung in den letzten Jahren wird der Begriff wieder häufiger und gehaltvoller benutzt und wir benutzen ihn bei der Pro Senectute ebenfalls.

Würden Sie denn andere Begriffe vorziehen?

Mir gefallen Begriffe wie Sorgekultur, Sorgegemeinschaft, sorgende Gemeinschaften. Der Begriff der Sorge umfasst die Selbst-Sorge, die Für-Sorge und den sorgenden Umgang untereinander. Zudem wird er verwendet im Sinne von «Ich mach mir Sorgen um etwas» und meint eine empathische Betroffenheit. Im Ausdruck «Wir tragen Sorge zueinander oder zu etwas» meinen wir, dass wir etwas mit Achtsamkeit und Sorgfalt tun. Damit beinhaltet der Begriff sowohl eine emotionale Betroffenheit wie auch den achtsamen Umgang mit sich selbst und andern.

In unseren Breitengraden gibt es seit einiger Zeit zaghafte Versuche von Caring Communities, von Sorgegemeinschaften, aber sie haben sich noch nicht überzeugend etabliert, weder in Stadtquartieren noch in Dörfern. Ist der sorgende Umgang auf das Familienleben reduziert und ausserhalb herrscht die «Ellbogengesellschaft»?

Ja und nein: Die Hilfsbereitschaft der Gesellschaft ist auch heute noch oft grösser als wir annehmen. Insbesondere in einer Krise besteht ein grosser Zusammenhalt der Bevölkerung. Es gibt aber zunehmend strukturelle Hürden, die eine länger andauernde Unterstützung erschweren, wie Wohnsiedlungen, welche die Anonymität fördern, eine geringe Integration in die Gemeinde oder das Quartier durch häufigere Umzüge aufgrund der Arbeitssituation, höhere Anzahl an Doppelverdienern etc. Der sorgende Umgang ist heute stark privatisiert und findet in funktionierenden Familien statt. Manchmal zerbrechen Familien oder Eltern sind mit dem beruflichen Engagement und der gleichzeitigen Betreuung ihrer Kinder und ihrer hochbetagten Eltern überfordert. Da kommen formelle Hilfs- und Betreuungsangebote etwa von Spitex, Pro Senectute und anderen Organisationen ins Spiel. Zudem gibt es hochbetagte Menschen ohne Familien. Auch sie brauchen Unterstützung.

Wie klären Sie bei Pro Senectute den Unterstützungsbedarf ab?

Wir machen eine sogenannte Bedarfsklärung bei Menschen, die sich bei uns melden. Oft melden sich unterstützungsbedürftige Personen erst, wenn sie fast am Boden sind und überhaupt nicht mehr mögen. Dann haben sie oft das Bedürfnis, dass man alles übernimmt. Aber wir wollen, dass die eigenen Ressourcen von beeinträchtigten Personen nicht durch gut gemeinte Hilfs- und Betreuungsleistungen geschwächt werden.

Bei Pro Senectute im Kanton SG haben wir für die Bedarfsklärung ca. 30 «Leiter/innen Hilfe und Betreuung».  Das sind Pflegefachpersonen oder Sozialarbeiter/innen  mit Berufserfahrung in der Altersarbeit. Mit einem geschulten Auge, viel Erfahrung und im Gespräch mit den Unterstützungsbedürftigen auf Augenhöhe wird der Einsatz abgeklärt.

In welchen Bereichen kann Pro Senectute Unterstützung leisten?

1. In der Haushaltführung, z.B. betten, waschen, putzen. 2. Beim Essen, z.B. einkaufen, Essen zubereiten, Vorratskontrolle, zum Trinken anhalten. 3. In enger Zusammenarbeit mit der Spitex Übernahme von pflegerischen Handreichungen , z.B. an- und auskleiden, Körperhygiene, Nahrung eingeben, Bewegung üben im/ausser Haus. 4. Sozialbetreuerische Aufgaben, z.B. Begleiten zu Terminen, Botengänge machen, Schriftliches erledigen, Gesellschaft leisten, motivieren, auf Risiken und Gefahren achten und reagieren.

Wie wird der Bedarf nun abgeklärt?

Wir arbeiten subsidiär, d.h. Selbstsorge im Sinne der Eigenverantwortlichkeit und familiäre Sorge gehen vor. Wir klären also die physischen, psychischen und geistigen Ressourcen der unterstützungsbedürftigen Person ab, ebenso ihr soziales Umfeld und bereits laufende Unterstützungsleistungen von anderen Organisationen. Es ist sehr wichtig, dass wir nicht «zu motiviert» sind mit unserer Hilfsbereitschaft. Als ich als Sozialarbeiter neu bei der Pro Senectute angefangen habe, sagte mir ein erfahrener Arbeitskollege bildlich gesprochen: «Arbeite nicht mit beiden Händen, sondern nur mit einer, die andere halte auf deinem Rücken oder in der Hosentasche. Denn wenn du zu motiviert hilfst, geht das oft auf Kosten der Erhaltung der Selbstkompetenzen der zu betreuenden Person.»

Wenn eigene Ressourcen nicht genügen und Hilfeleistungen aus dem sozialen Umfeld und von anderen Organisationen ergänzungsbedürftig sind, kommt Pro Senectute zum Einsatz. Wie wird der Einsatz organisiert?

Wir haben im Kanton SG ca. 1200 Personen, die eingesetzt werden können. Das sind engagierte Menschen meistens ab 50, die bereit sind, einen Teil ihrer Freizeit als Sozialdienst einzusetzen. Sie werden intern geschult und je nach Erfahrungshintergrund, Interessen und Eignung eingesetzt. Wir möchten aber nicht, dass unsere Einsatzkräfte sich gewissermassen aufopfern, der Einsatz soll auch ihre Lebensqualität erhöhen und bereichern, indem sie was sehr Sinnvolles tun können. Der Einsatz wird koordiniert durch die Person, welche die Bedarfsabklärung gemacht hat. In der Regel unterstützen wir nur ergänzend in einem Lebensbereich, da oft noch auf Ressourcen der Unterstützungsbedürftigen und der An- und Zugehörigen zurückgegriffen werden kann.

Der Unterstützungsbedarf ändert sich im Laufe der Zeit. Wie reagieren Sie darauf?

Ja, bei Menschen in höherem Alter kann sich in kurzer Zeit viel ändern. Deshalb machen wir eine erneute Bedarfsklärung, wenn sich die Situation verändert hat. Dabei gehen wir mit den Betroffenen Punkt für Punkt durch, schauen gemeinsam, welche Ziele erreicht wurden und wo die Unterstützungsleistungen angepasst werden müssen.

Sie unterscheiden zwischen Bedarf und Bedürfnis. Warum?

Die Bedürfnisse tendieren gegen unendlich und vieles ist «nice to have». Wir orientieren uns am Bedarf, also am «must to have», an dem, was nötig ist, um im Alter mit möglichst hoher Selbstbestimmung und Würde zu leben.

Im Impulspapier 1 der Paul Schiller Stiftung vom April 2021* werden in den folgenden sechs Handlungsfelder Betreuungsleistungen konkretisiert, nämlich «Selbstsorge», «Alltagsgestaltung», «soziale Teilhabe», «Haushaltführung», «Betreuung in Pflegesituationen», «Beratung und Alltagskoordination». Was sagen Sie dazu?

Wir sind in allen Bereichen tätig und finden die aufgezählten Handlungsfelder für ein gutes Altern bedeutsam. Aus meiner Erfahrung ist für eine möglichst hohe Lebensqualität die soziale Teilhabe zentral. Dabei kommt es nicht auf die Anzahl sozialer Kontakte an, sondern auf deren Tiefe und Innigkeit. In der Hochaltrigkeit nehmen die sozialen Kontakte ab, aber der Wunsch nach einer tiefen Herzensverbindung mit einer oder mehreren An- oder Zugehörigen bleibt, meistens bis zum Tod. Was fehlt, ist ein Handlungsfeld Seelsorge in einem spirituellen Sinn, aber auch für die Verarbeitung von Verlust und Abschied von geliebten Menschen. Die Kirchen leisten hier nach wie vor einiges. Es fehlt ihnen aber zunehmend das Personal.

Thomas Diener, besten Dank für das Gespräch

*Siehe unter «Gute Betreuung im Alter«


Thomas Diener, 1958 im Appenzeller Vorderland geboren und aufgewachsen, absolvierte nach der Mittelschule eine Verwaltungslehre und liess sich nach einigen Jahren Berufspraxis zum diplomierten Sozialarbeiter ausbilden. Die ersten Berufsjahre als Sozialarbeiter arbeitete er bei der evangelischen Kirchgemeinde in St. Gallen und wechselte anschliessend zu Pro Senectute. Heute ist er Geschäftsleiter der Pro Senectute St. Gallen.

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