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Kopfreisen durch imaginäre Welten

Das Berner Zentrum Paul Klee zeigt Adolf Wölflis «Riesen=Schöpfung», eine Ausstellung mit Texten und bislang unveröffentlichten Heftauszügen eines schizophrenen Künstlers, der mit den Werken seine Biografie neu schrieb.

Adolf Wölfli (1864-1930) als «Künstler» zu bezeichnen, hätte vor hundert Jahren irritiertes Schulterzucken ausgelöst. Das ehemalige Verdingkind lebte nach einem Kindsmissbrauch und einem Gefängnisaufenthalt während 35 Jahren als Insasse in der Psychiatrischen Heilanstalt Waldau bei Bern, wo er ab 1904 zu zeichnen und zu schreiben begann. Der Psychiater Walter Morgenthaler war der erste, der ihn in einer Monographie als «Künstler» wertschätzte und in der Folge auch förderte. Heute geniesst das ungewöhnliche Schaffen weltweit hohe Anerkennung.

Adolf Wölfli in seiner Zelle neben einem Stapel seiner Schriften, 1921. © Adolf Wölfli-Stiftung, Kunstmuseum Bern.

Wölfli stammte aus armen Verhältnissen und arbeitete als Taglöhner. Wegen zunehmender sozialer Isolierung und Vereinsamung wurde er 1895 als 31jähriger mit der Diagnose Schizophrenie in der Waldau interniert. Dort schuf er bis zu seinem Tod im Jahr 1930 ein 25`000seitiges Gesamtwerk, das er als «Skt.Adolf-Riesen-Schöpfung» bezeichnete. Dieses «Universum» ist einzigartig in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Wölflis Werke belegen, dass Wahnsinn nicht per se destruktiv sein muss, sondern sehr kreativ sein kann. Psychiater Morgenthaler war der erste, der dies erkannte.

Biografie aus eigener Sicht

Am schriftstellerischen Oevre, seinem Hauptwerk, arbeitete Wöfli von 1908 bis zu seinem Tod. Er erschuf eine idealisierte Lebensgeschichte, in der er und seine Getreuen durch Länder und Kontinente imaginärer Welten reisen. Es sind fantastische Kopfreisen, die sogar ins All führen und den kargen Aufenthalt des Patienten in der Waldau auf bemerkenswerte Art kontrastieren. Die Zeichnungen ornamentale Motive, szenische Darstellungen und Textbänder, die die Zeichnungen überlagern, durchweben und erklären.

Felsenau Bern, 1907.

Ausstellungskurator Hilar Stadler ist überzeugt, dass Wölfli mit der «Riesen=Schöpfung» seine eigene Biografie neu schrieb oder zumindest umdeutete. Durch die Gefangenschaft war er seiner tatsächlichen Biografie beraubt worden. Die ausserordentlich poetischen Werke berühren bis heute. Die Ausstellung setzt laut Stadler «ein Statement für das Unangepasste und Aussergewöhnliche, das in einer immer stärker normierten Welt kaum mehr Platz findet.»

Gebunden sind Wölflis Schriften in prächtige, bis zu 50 Zentimeter dicke Folianten, die mit Tonstücken, Gedichten und Illustrationen durchsetzt sind. Für die Präsentation wurden einzelne Blätter konservatorisch korrekt aus den Büchern herausgelöst. Die Ausstellung beginnt mit frühen Zeichnungen (1904-1907), die Wölfli mit dem Bleistift auf Zeitungspapier (75 x 100 Zentimeter) zeichnete. Ab 1907 wurden die Werke farbig, poetisch und erzählen von grossartigen Utopien. Auf die Reiseerzählungen folgten ab 1912 «geographische und allgebräische Hefte» über die glorreiche Zukunft.

Sonnenuhr, 1905.

Laut Kurator Stadler malte Wölfli nicht zu therapeutischen Zwecken, sondern getrieben von einem Sendungsbewusstsein. Zeitgenossen sollten seine Werke lesen. Zu diesem Zweck schuf der Künstler ab 1912 sogenannte «Brotkunst», also spezielle Werke, die er an Liebhaber verkaufte oder gegen Farbstifte und Kau-Tabak eintauschte. Gegen Ende seines Lebens bot er seine Werke sogar einem Berner Verlag zum Druck an. Auftragsarbeiten sind von Wölfli bemalte Möbel und Schränke, die an eine Weiterentwicklung rustikaler Bauernmalereien erinnern. Zwei bemalte Schränke sind in der Ausstellung zu sehen.

Beschäftigung mit dem Tod

Im letzten Teil der Ausstellung werden unter dem Titel «Trauer-Marsch» Wölflis Spätwerke (1928-1930) gezeigt. Die dicht beschriebenen Hefte mit Texten und Collagen sind das persönliche Requiem eines Menschen, der sich – vom Magenkrebs gezeichnet – mit der eigenen Endlichkeit auseinandersetzt. Der «Trauer-Marsch» enthält nur noch wenige Zeichnungen, dafür aber zahlreiche Gedichte, Lieder und Rätsel. Die Texte wurden von der Berner Schauspielerin und Regisseurin Meret Matter nachgesprochen und werden in Lesungen präsentiert.

Kurator Hilar Stadler. Foto Peter Schibli

Aus Anlass der Wölfli-Ausstellung finden in den kommenden Wochen in Bern weitere Veranstaltungen zum Thema statt: Auf dem Bahnhofplatz wird unter dem Titel «Der Wolf ist los» eine Plakatausstellung mit Werken verschiedener Künstlerinnen und Künstler gezeigt. Das Psychiatriemuseum veranstaltet eine Führung zu Wölflis Werk- und Lebensstätte sowie eine Lesung der Neuauflage von Walter Morgenthalers Monografie. Das Kindermuseums Creaviva wagt einen kreativen Brückenschlag vom Atelier zur Wölfli-Ausstellung.

Titelbild:

Die Wölfli-Ausstellung im Zentrum Paul Klee ist noch bis zum 15. August 2021 zu sehen. Mehr Informationen unter www.zpk.org

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