«Bürgerlich»

Ich musste leise vor mich hin schmunzeln. Da hörte ich kürzlich im Radio, und konnte es dann unter SRF News auch lesen, dass «die Bürgerlichen» sich zu einer «sicherheitspolitischen Allianz» zusammenschliessen wollen. Während Jahren hätten sie jetzt bei der GSoA beobachten können, wie man so etwas mache. Und im Sinne der alten militärischen Weisheit: «Lerne vom Gegner, dann kannst Du ihn auch besiegen», werde nun ein Gegengewicht geschaffen.

Am politischen Leben in unserem Lande hat mich stets fasziniert, dass zwischen den verschiedensten weltanschaulichen Lagern immer ein Gespräch, ein Dialog, möglich war. Nun meine ich eine neue Entwicklung zu beobachten. Unausgesprochen war früher das «Wohl des Landes» das Ziel aller Gruppierungen. Die Wege, auf denen es erreicht werden sollte, waren verschieden. Heute scheinen mir vor allem die tragenden Ideen im Vordergrund zu stehen. Ein gemeinsamer Nenner ist nicht mehr wichtig.

Das führt dann besonders in Abstimmungskämpfen zu einer gewissen Unerbittlichkeit in der Auseinandersetzung. Und erinnert mich an die Machtkämpfe, die in alten Zeiten in italienischen Städten ausgefochten wurden: «Hie Guelfen – hie Ghibellinen». Einer dieser Konflikte wurde ja von Shakespeares in «Romeo und Julia» sogar dramatisch bearbeitet.

Ich erinnere mich aber auch an meinen Vorgänger im Nationalrat, Alphons Müller-Marzohl (1923- 1997), von dem ich einen Artikel mit dem Titel: «Politik im bürgerlichen Sinn und Geist», zusammen mit anderen Zeitungsausschnitten in einem grünen Mäppli aufbewahrt habe. Er hat ihn 1995 verfasst. Die Ausführungen haben an Aktualität bis heute nichts verloren.

Müller-Marzohl, der 1963 in den Nationalrat gewählt wurde, beschreibt darin ein Erlebnis, das ich mehrere Jahre später ebenfalls hatte. Ein Sozialdemokrat nannte ihn einen «Bürgerlichen». Und mein Vorgänger fragte sich, in welche Schublade er jetzt da gesteckt werde? Dass ich selbst eine «Bürgerliche» sein sollte, wurde mir auch erst bewusst, als mich eine sozialdemokratische Kollegin ansprach: «Du als bürgerliche Frau». Und auch ich wusste nicht, wie ich diese Bezeichnung einordnen sollte.

Müller-Marzohl fragt in seinem Essay: «Ist «bürgerlich» ein tragfähiger Begriff?» Er nennt den Begriff «unscharf», durch seine Unklarheit sogar gefährlich. Es trifft natürlich zu: In seiner Schwammigkeit bietet er sich für viele Definitionen an. Aber eine Aussage liegt mit Sicherheit drin. «Bürgerlich» bedeutet «nicht links»!

In meinem Dossier finde ich noch weitere Zeitungsausschnitte von ehemaligen prominenten Politikern zum Begriff «bürgerlich». Alle stammen aus dem Jahr 2005. Darunter, welcher Fund, auch ein Text unseres Seniorweb-Kolumnisten Andreas Iten. Kristallklar und überzeugend!

Nicht unterschlagen will ich auch die Antworten von zwei Zürcher Regierungsratskandidaten aus demselben Jahr auf die Frage, was denn «bürgerlich» sei? Sie weisen hin auf die Art, wie sie wohnen: gemütlich, bodenständig, und auf die Art, wie sie essen: gesund, traditionell. Beide betonen zudem: Die Ehe ist intakt!

Der Hinweis auf das Essen führt mich in meine Kindheit zurück. Wenn ich eine meiner Tanten vor Begeisterung über ihr gutes Essen umarmen wollte, dämpfte sie meinen Enthusiasmus jeweils mit einem trockenen: «Weisst Du, meine Küche ist gut bürgerlich». Und mein Stammlokal, in dem ich mich heute oft mit Kolleginnen zum Mittagessen treffe, rühmt sich mit demselben Begriff: «gut bürgerliche Küche!»

Ausgegangen bin ich zu Beginn meiner Kolumne von der sicherheitspolitischen Allianz, die in diesen Tagen von bürgerlichen Politikern gegründet worden ist. Bekannt geworden ist mir nur der parteipolitische Hintergrund des Präsidenten, nämlich FDP. Seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter sind nicht näher verortet. Was sind sie denn? «Bürgerlich», eben!

Wie wäre es, wenn alle interviewenden Journalisten den Verantwortlichen dieser neuen Allianz so ganz nebenbei auch die Frage stellen würden: «Und was verstehen Sie heute unter der Bezeichnung «bürgerlich»? Der Reigen dieser Antworten wäre aufschlussreich und blätterfüllend!

Ist es nicht an der Zeit, sich zu fragen, ob dieser  «schwammige» Begriff noch in unser politisches Vokabular passt?

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2 Kommentare

  1. Frau Stamm stellt die Frage und kommentiert in einem (partei-)politischen Kontext. Mit Bestimmtheit lässt sich für die Schweiz sagen: Bürgerlich sind die Parteien SVP, FDP und Die Mitte (ex CVP). Sie erheben den Anspruch, Politik für «die Bürger» zu machen. In Tat und Wahrheit betreiben sie wie alle Parteien eine Politik primär zugunsten ihrer Mitglieder und Gesinnungsgenossen – und nicht für «das Wohl des Landes». Das ist heute so, war immer so und wird auch immer so sein. Zur Frage, was «bürgerlich» in der Schweizer Politik bedeute, braucht es also kein langes Werweissen.
    Allerdings weist der Begriff über den parteipolitischen Kontext hinaus. Bei der Suche nach Begriffsdefinitionen hilft alleweil ein Blick in den Duden weiter. Hier findet man für «bürgerlich» Synonyme wie: angepasst, etabliert, konservativ, mittelständisch, ordentlich, solide; engherzig, borniert, engstirnig, kleinbürgerlich, kleingeistig, kleinlich, spiessbürgerlich, spiesserhaft, kleinkariert, spiessig.
    Können sich Bürgerliche wie Frau Stamm mit einer oder mehreren dieser Eigenschaften identifizieren?

  2. Wo die politische Verordnung von «bürgerlich» liegt, wissen immerhin die meisten noch. Bourgoisie und Bildungsbürgertum, auf dieser Basis gründet sich heutige bürgerliche Politik. Alles müssen wir nicht über Bord werfen in dieser Zeit des Individualismus und einer grassierenden Wohlstandsdekadenz und einer stets zunehmendem Haltung der Staat solle alles regeln und vorallem die Tüchtigen bestrafen und immer mehr umverteilen. Wichtiger wäre in dieser Zeit des schnellen Wandels, der Digitalisierung, der Globalisierung und einer Schweiz, die sich immer mehr in abseits stellt, sich zu erinnern, was dieses Land wohlhabend gemacht hat und Umverteilung erst ermöglicht hat. Es war der Liberalismus des 19. Jahrhunderts, der fast 70 Jahre mehrheitlich die Schweiz bestimmte und die Industrialisierung der Schweiz, das Entstehen unserer Weltfirmen, Arbeit und Wohlstand erst ermöglichte! Liberalismus ist im Gegensatz zum Sozialismus und Nationalismus nicht gescheitert und wäre auch heute für die Schweiz das beste Gesellschaftsmodell. Anstatt sich dafür stark zu machen, macht auch eine Gössi-FDP auf lautlose indifferente «Lösungspolitik» anstatt ordnungspolitsche Pflöcke einzuschlagen. Indifferenz, Lösungspolitik um jeden Preis, vor Haltung und politischer Auseinandersetzung, treibt viele verunsicherte Bürger zu den extremen Polen der Nationalisen und grünlinken Neosozialisten. Beides gescheiterte Gesellschaftsmodelle. Die ex CVP Mitte und die FDP-Liberalen müssen sich wieder viel mehr um Positionen und Überzeugungen, zum Wohle dieses Landes, mit Herzblut engagieren, ob man sie nun bürgerlich nennt oder nicht.

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