Mit den Fragen «Wie werden wir sozialisiert?» «Welche Rolle spielt dabei die Sprache?» «Wie wird man eigentlich ein Mensch?» beschäftigt sich die beeindruckende Theaterproduktion «Kaspar», inszeniert an den Bühnen Bern. Eine «Sprechfolterung», wie Autor Peter Handke selber feststellte.
Die historische Figur des Kaspar Hauser tauchte 1828 in Nürnberg als «rätselhafter Findling» auf. Er schien geistig zurückgeblieben, redete kaum und ernährte sich anfänglich nur von Brot und Wasser. Manche glaubten, der Jüngling sei der misshandelte und ausgesetzte Erbprinz von Baden. Andere sahen in ihm den unzivilisierten «guten Wilden» (nach Rousseau). Bis zu seinem Tod blieb Kaspar Hauser eine gesellschaftliche Attraktion.
Der 2019 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnete Peter Handke (78) veröffentlichte 1968, mitten in der deutschen Studentenbewegung, sein experimentelles Sprechstück «Kaspar», das nicht die Geschichte des Nürnberger Findelkinds erzählt. Vielmehr entwickelte der österreichische Schriftsteller und Übersetzer dessen Schicksal weiter und übertrug die Thematik der «Wortdisziplinierung» in die Gegenwart. Am Beispiel der Kunstfigur Kaspar wird in Bern die Sprachabhängigkeit von Kindern, Betagten, Schutzbefohlenen, ja von uns allen aufgezeigt.
Kaspar (Claudius Körber): «Seit ich sprechen kann, kann ich ordnungsgemäss aufstehen; aber das Fallen ist doppelt so schlimm, seit ich weiss, dass man über das Fallen sprechen kann.»
Der Mechanismus des gesprochenen Worts dient in Handkes Vierpersonen-Stück zur erzieherischen Dressur, der erzwungenen gesellschaftlichen Integration nach einem starren Schema. Die Stadien der Sprachfindung Kaspars, die Sprach- wie Sprecherziehung, werden von drei «Einsagern», einer Art «Kleinfamilie», gesteuert. Der Sprachterror wirkt streckenweise gleichschaltend, andernorts provokativ, irritierend, widersprüchlich, ja absurd. Schrittweise wird Kaspar zum «Nachsager», bis er das Stadium der vollkommenen Anpassung erreicht und jegliche Individualität verliert. Am Ende hat er den anderen «Kaspars», den «Einsagern», nichts mehr entgegenzusetzen.
Von flüsternd bis schreiend
Laut Handke könnte das Stück auch «Sprechfolterung» heissen. Die Stimmen, die in der Berner Inszenierung über den «Helden» hereinprasseln, klingen ganz unterschiedlich: väterlich, freundschaftlich, verständnisvoll, fordernd, flüsternd, sachlich, schreiend, sich überschlagend, einzeln oder im Chor. «Jeder ist für seinen Fortschritt verantwortlich». «Jeder Gegenstand, der schadet, wird unschädlich gemacht». «Jedes Leiden ist natürlich». «Nicht stehen, wenn du sitzen kannst». «Was du hast, das bist du». Dadurch erlernt der Hauptdarsteller im Lauf der langsamen Sozialisierung konventionelle Verhaltensweisen und vorgeprägte Bilder aus der aktuellen Welt. Widerstand scheint zwecklos. Mit der Zeit passt sich Kaspar immer mehr seinen Peinigern an. «Der Tisch läuft dir nicht weg.»
Die «Einsager» an der Bushaltestelle: «Es ist unwahr, dass die Darstellung der Verhältnisse die einzig mögliche Darstellung der Verhältnisse ist.»
Der Nachwuchsregisseur Mathias Spahn hat das Stück an den Bühnen Bern ebenso kraftvoll wie aussagekräftig inszeniert. Das Geschehen spielt sich auf acht «Lebensinseln» ab: in einem Esszimmer, einer Turnhalle, einer Kirche, einer Bibliothek, an einer Bushaltestelle. Springt Kaspar (gespielt von Claudius Körber) in weisser Unterwäsche von einer Insel auf die nächste, wechseln schlagartig das Licht, die Hintergrundmusik, die Stimmung. Ebenso variantenreich treten die drei «Einsager» (Genet Zegay, Vieth Anh Alexander Tran und Stéphane Maeder) auf. Im Befehlston schwatzen sie einzeln oder gemeinsam auf ihr Opfer ein, mit Leitsätzen wie «Der Tisch ist dir ein Ekel. Aber der Stuhl ist ein Ekel, weil er kein Tisch ist.»
Konformismus bis zum bitteren Ende
Kaspar tritt ins Licht: «Wie wird man ein Mensch?»
Unterbrochen wird die moralisierende Sozialisierung des Hauptdarstellers durch szenische Einschübe einer Theatervorstellung: Das Saallicht geht an, aus dem Off gibt der Inspizient über Lautsprecher Anweisungen an die Maskenbildnerin, die Kostümverantwortliche, die Regie-Assistenz, die Bühnenarbeiter, die Beleuchter. Dann geht das Licht aus, und die nächste Eskalation der Domestizierung des jungen Kaspars folgt. Am Schluss erscheint der Hauptdarsteller nicht mehr in weisser Unterwäsche, sondern in Alltagskleidern. Seine Rolle geht in orwellscher Manier an ein neu zu formendes Individuum in weisser Unterwäsche über.
Aufschlussreiches Publikumsgespräch
Interessant war am Ende der zweiten Vorstellung ein Publikumsgespräch mit einem guten Dutzend interessierter Theaterfans. Im Dialog mit den Spielenden gaben sie ihre Interpretation des Geschehens zum besten. Ein Herr meinte, das Stück behandle «unser Leben zwischen Ordnung und Chaos». Eine Dame sah in der Inszenierung «den wachsenden Trend gegen den Individualismus». Für wieder andere agierten die Schauspielerinnen und Schauspieler «zwischen Anpassung und totalem Gehorsam, wobei die Ordnung von oben befohlen wird». Ein Besucher schliesslich meinte, nun habe er «den Unterschied zwischen Sinnhaftigkeit und Sinnlosigkeit menschlichen Tuns» verstanden.
Titelbild: Kaspar wird von den drei «Einsagern» zu einem Menschen gemacht. Alle Fotos: Annette Boutellier.
Weitere Vorstellungen bis 18. Februar 2022 bei Bühnen Bern (Vidmar 1).