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Macht Einsamkeit krank?

Das im Frühling 2021 auf deutsch erschienene Buch von Noreena Hertz «Das Zeitalter der Einsamkeit. Über die Kraft der Verbindung in einer zerfaserten Welt» hat viel Lob in den Buchbesprechungen erhalten. Hält es, was es verspricht?

 Leserinnen und Leser erfahren im Buch einiges über die vielfältigen Formen der Einsamkeit, die es global zu geben scheint und schon vor Corona gegeben habe. Unzählige sollen sich verlassen, ausgeschlossen, unverstanden, isoliert, übersehen fühlen, was zu physischen und psychischen Erkrankungen führen kann.  Das Gefühl der Einsamkeit kann einen beschleichen, wenn man allein unterwegs ist oder im Bett am Handy wischt oder tupft, aber auch in einem Team, im Verein, in der Masse, beim Einkaufen, Busfahren usw.

Aber was ist Einsamkeit? Noreena Hertz: « Ich definiere Einsamkeit als inneren wie auch existenziellen Zustand – persönlich, gesellschaftlich, wirtschaftlich und politisch.» (S. 19) Einsamkeit sei mehr als das ungestillte Bedürfnis nach Verbundenheit zu unseren Mitmenschen, mehr als unser unerfüllter Wunsch zu lieben und geliebt zu werden, mehr als das Bedürfnis nach emotionaler Nähe, sondern werde auch erfahren am Arbeitsplatz, wenn wir uns «machtlos, unsichtbar und überhört» fühlen, wenn wir uns von Politikern unverstanden, in der Familie, im Freundeskreis, in der Gesellschaft  irgendwie abgeschnitten fühlen. Erhöht werden könne die Einsamkeit «durch Globalisierung, Verstädterung, zunehmende Ungleichheit und Machtungleichgewichte, grössere Mobilität, bahnbrechende Technologien, Sparmassnahmen und zuletzt das Coronavirus.»

Über knapp 300 Seiten werden nicht nur eindrückliche Beispiele der Vereinsamung aus aller Welt präsentiert, sondern auch Strukturen, die Vereinsamung erzeugen. Angegriffen wird der Neoliberalismus als rücksichtsloser Konkurrenzkampf eines jeden gegen jeden, so dass Tugenden der Solidarität, Güte und Fürsorge dem auf den eigenen Vorteil bedachten Homo oeconomicus geopfert werden, der nicht nur als Looser, sondern auch als Gewinner Gefahr läuft zu vereinsamen.

Angegriffen werden politische Populisten, die Ausgegrenzten und Verlierern in Grossversammlungen eine neue «Heimat» bieten und Zugehörigkeit vorgaukeln. Das sogenannte «Volk» werde von Populisten zusammengeschweisst, um Einwanderer und politische Gegner mit Häme zu erniedrigen.

Die Grossstadt mit ihrer Schnelllebigkeit, die fehlenden Nachbarschaften, allein zu wohnen und allein zu essen mache unfreundlich, schroff und kalt.

Das Scrollen am Handy, die digital imaginierten Freundschaften in den Social Medias, die Hassbotschaften, der Vergleich mit andern, die beliebter sind und mehr Likes haben, würden am Selbstvertrauen nagen.

Im Grossraumbüro sei man oft einsam und müsse trotzdem ständig erreichbar sein. Mitarbeiter im Homeoffice könnten digital überwacht und ihre Konzentration und Leistung könne mit digitalen Programmen gemessen werden, so dass man zuhause oder im Grossraumbüro «ständig bewertet, eingeschätzt und eingeordnet» werden könne.

Hertz fasst im Schlusskapitel ihre Erkenntnisse so zusammen: «Einsamkeit ist nicht nur eine subjektive Gemütsverfassung. Sie ist auch ein gemeinschaftlicher Daseinszustand, der einen hohen Tribut von uns als Individuen und von der Gesellschaft als Ganzer fordert, denn sie trägt jährlich zum Tod von Millionen bei, kostet die Weltwirtschaft Milliarden und stellt eine grosse Bedrohung für die Idee einer toleranten und inklusiven Demokratie dar.» (S.293)

Wie kann aus der Sicht von Noreena Hertz Einsamkeit gelindert werden? Zunächst seien Individuen, Regierungen und Unternehmen für die Problematik der Einsamkeit zu sensibilisieren. Der Einzelne trage zwar eine Mitverantwortung zur Linderung der Einsamkeit, aber gleichzeitig sei ein Wandel des wirtschaftlichen, politischen und sozialen Systems «unabdingbar». Sie meint, es sei «Zeit für die Einführung eines fürsorglicheren und gütigeren Kapitalismus», die Politik habe dafür zu sorgen, dass der zunehmende Graben zwischen Arm und Reich mit einem besseren Steuersystem zugeschüttet werde, die Sozialausgaben seien zu erhöhen und es soll mehr Aufwand geleistet werden, um das Gemeinschaftsgefüge wiederherzustellen, etwa durch Kulturförderung und die Einrichtung von Begegnungsstätten. In einem Zeitalter der «Fake News», die durch soziale Medien und problematische Besitzverhältnisse im Medienbereich leicht verbreitet werden können, dürfe sich die Demokratie nicht mehr bloss auf die «plumpste Form des Mehrheitsprinzips» verlassen, sondern es brauche eine «deliberative Demokratie». Da könnten sich von einem Problem Betroffene aus ihren unterschiedlichen Perspektiven und Lösungsansätzen heraus beraten und zu einer Einigung gelangen. Durch die Mitgliedschaft in örtlichen Vereinen und Gruppen, durch die Pflege von Höflichkeit, Freundlichkeit und Toleranz in der Nachbarschaft könne vor Ort Einsamkeit gemindert werden.

Und der letzte Satz des Buches lautet: «Das Gegenmittel für dieses Zeitalter der Einsamkeit kann letztlich nur darin bestehen, dass wir für andere da sind – ganz gleich, wer die andern sind. Nicht weniger ist gefragt, wenn wir wieder eine Verbindung zueinander aufbauen wollen in dieser zerfaserten Welt.» (S. 321)

Als Leser kann man zwar dankbar sein für die eindrücklichen Schilderungen, Erkenntnisse und Forderungen, aber einiges wirkt plakativ und einseitig. Für andere da zu sein, lautet das Gegenmittel…und das braucht Zeit … aber wie können sich durch berufliche und familiäre Arbeit Aufgeriebene Zeit nehmen? Viele Fragen bleiben nach dem Lesen offen… und gerade das ist ein positives Ergebnis der Lektüre und kann anregend wirken für einen besseren Umgang mit sich selbst und andern.

Noreena Hertz: Das Zeitalter der Einsamkeit. Über die Kraft der Verbindung in einer zerfaserten Welt. Hamburg 2021. ISBN 978-3-7499-0115-9

Noreena Hertz ist eine 1967 in London geborene Professorin für Ökonomie. Weltweit bekannt wurde sie durch den Bestseller «Wir lassen uns nicht kaufen» (The Silent Takeover), 2001. Sie gehört zu Grossbritanniens bekanntesten Intellektuellen und ihre Bücher wurden in 22 Sprachen übersetzt.

 Vgl.auch: Familien- und Frauengesundheit, FFG-Videoproduktion (Hrsg.): Einsamkeit hat viele Gesichter. Herausforderungen beim Älterwerden. Luzern 2021. Mit sieben filmischen Kurzporträts, Hinweisen auf Anlaufstellen und Anregungen unter https://www.einsamkeit-gesichter.ch

Bildlegenden: Titelbild: Mohammed Malla, ©2021, Voltafilm, Luzius Wespe. Bilder im Text: Spuren im Schnee, © 2021, Voltafilm, Luzius Wespe; Carmen Combertaldi, ©2021, Voltafilm, Luzius Wespe

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