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Den Dämon im Kopf

Das Zürcher Theater Winkelwiese zeigt mit «Vater» das erste Bühnenstück des Filmemachers Dietrich Brüggemann in einer Eigenproduktion. Virtuos und mitreissend spielt Alexander Maria Schmidt den Sohn Michael, der von seinem väterlichen Vorbild nicht loskommt.

Am Sterbebett des Vaters beginnt eine Zeitreise durch das Leben von Michael. Er schaut auf sein Leben und das der Eltern zurück. In Michaels Vorstellung wächst der Tumor im Kopf seines Vaters immer weiter, bis vom alten Mann nichts mehr übrigbleibt. Aber verschwunden ist der Vater damit nicht. Ständig mischt er sich in das Leben des Sohnes ein, früher tat er das real, heute als lästiger Dämon.

Michaels Gesprächspartner erscheinen in Form von Röntgenbildern.

Es beginnt mit einer SMS von Nina, die Michael mitteilt, dass ihre Beziehung Vergangenheit sei und sie zu ihrem Freund zurückkehre. Sein stets überlegener alter Kumpel Sven meint dazu: «Sei wie ein Hubschrauber-Pilot. Erkenne, wo Du landen kannst.» Doch Michael verliebt sich immer wieder in Frauen, die eigentlich nur mit ihm befreundet sein wollen. Die Schuld dafür sieht er in seinem Kindheitstrauma, als der Vater der Mutter ein «ironisches Geschenk» machte mit einer Heino-Schallplatte. Das Lied Katja mit Feuer im Herzen und Augen voll Glut löste zwischen den Eltern Streit aus und dem kleinen Michael ging das Lied nicht mehr aus dem Kopf. Er hörte die Platte so oft, bis der Vater ihm in einem Wutanfall drohte, sie zu zerbrechen, wenn er sie noch einmal auflegte.

Michael lernt später wirklich eine Katja kennen, auch eine Desiree, und immer redet ihm der Vater drein, was er tun oder lassen soll. Den Rat einer Freundin, sich psychologisch helfen zu lassen, schlägt er aus und redet sein Vater-Problem klein, weil es ja Menschen mit viel grösseren Problemen gebe.

Die karge Bühne gibt Raum für die «Zwiegespräche». Foto: rv.

In Michaels Erinnerung tauchen immer wieder Begegnungen mit Menschen auf: mit den Eltern, der Tante, mit Freundinnen, dem Kumpel Sven, dem scheinbar alles gelingt. Die unterschiedlichen Charaktere spielt der Schauspieler Alexander Maria Schmidt in dem Einpersonenstück so differenziert und überzeugend, dass man sie lebendig vor sich sieht. Sein Spiel nimmt mich als Zuschauerin mit, vieles kommt mir bekannt vor, auch immer wieder mit einem Lachen. Die Ansprechpersonen wechseln in rascher Folge, dabei werden die Stimmungslagen durch Klänge und einzelne Lieder verstärkt, die Schmidt als Michael singt. Etwa poetische Lieder vom ehemaligen DDR Liedermacher Gerhard Gundermann, der als Baggerführer in der Lausitz zahlreiche Lieder schrieb und 43-jährig starb. Für mich eine Entdeckung.

Lichtführung und Musik verdeutlichen die schnell wechselnden Zeitebenen.

 «Vater» erzählt von der Prägung der eigenen Identität durch die Familie und von den Versuchen, sich aus diesem Netz zu lösen und sein eigenes Leben zu leben. Und zwar so, dass einem vor Lachen das Herz schwer wird. Wie bei einem traurigen Alleinunterhalter wird Michaels Gedankenfluss im Laufe des Abends durch Interventionen der Licht- und Tonregie gebrochen, bis ihm das Heft aus der Hand genommen wird und er in einem scheinbar überdimensionalen, dröhnenden Bühnensetting dem Finale entgegenblickt.

Die Inszenierung «Vater» entstand während des Lockdown im Frühjahr 2020 unter der Regie von Manuel Bürgin, Leiter des Theater Winkelwiese seit 2015. Die Schweizer Erstaufführung wird in der Theaterbar gespielt, einem intimen Raum für 15 bis 20 Personen. Der sterbende Vater ist physisch nicht präsent, er entsteht als Übervaterfigur allein durch den Text und das Schauspiel in den Köpfen des Publikums. Die Uraufführung fand im Deutschen Theater in Berlin statt unter der Regie des Autors Dietrich Brüggemann.

Bis zum Schluss bleibt die Frage, wie Michael aus seinem Trauma herauskommen wird.

Bühne und Ausstattung von Jacqueline Weiss sind sparsam gehalten. Als Requisiten dienen hauptsächlich Röntgenbilder, die die verschiedenen Figuren versinnbildlichen und durchleuchten und mit denen Michael Zwiegespräche hält. Die Toneinlagen und arrangierten Musikstücke von Sandro Corbat sowie die Lichtregie von Michael Omlin und Paul Sacher verdeutlichen die schnell wechselnden Zeitebenen.

Der Schauspieler Alexander Maria Schmidt arbeitet seit 2010 als freier Schauspieler in Berlin und zeitweise am Schauspielhaus Zürich sowie am Konzert Theater Bern. Im Theater Winkelwiese war er in verschiedenen Inszenierungen von Manuel Bürgin zu sehen.

Fotos: © Ingo Höhn

Theater Winkelwiese, Zürich. Infos und Tickets: www.winkelwiese.ch

Vorstellungen:
Sonntag,  12.12.2021, um 16 Uhr
Dienstag, 14.12.2021, um 20 Uhr
Samstag, 15.01.2022, um 20 Uhr
Sonntag, 16.01.2022, um 16 Uhr

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