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Was heisst Muttersein?

Ein Mädchen, das versehentlich von ihrem Freund schwanger wird, und ein Paar, das keine eigenen Kinder bekommt, werden von Naomi Kawase im Film «True Mothers» auf eindrückliche Weise zusammengeführt. Die japanische Regisseurin erkundigt dabei mit wunderbaren Bildern und liebenswürdigen Menschen, was Muttersein heissen kann. Ein Film, der Wertmassstäbe setzt.

Das Telefon klingelt, und das Familienglück von Satoko und ihrem Mann steht auf der Kippe. Das in Tokio lebende Paar konnte keine eigenen Kinder bekommen, adoptierte deshalb den kleinen Asato und lebte sechs Jahre lang glücklich mit ihm zusammen, bis, völlig unerwartet, Hikari, die leibliche Mutter, die bei der Geburt erst vierzehn war, anruft und das Kind zurück oder Geld haben will. Satoko und ihr Mann Kiyokazu fallen aus allen Wolken und beschliessen, Hikari zu treffen. Doch die Frau, die jetzt vor ihnen steht, hat nicht die geringste Ähnlichkeit mit Hikari bei der Adoption. Wer ist sie? Was will sie? – So weit die Geschichte in ihrem äusseren Ablauf. Doch der Film birgt viel mehr!

Naomi Kawase, die japanische Meisterregisseurin

Die 1969 in Nara geborene Naomi Kawase stellt immer wieder Menschen, die im Alltag übersehen werden, ins Zentrum ihrer Filme: 2015 in «An – Von Kirschblüten und roten Bohnen» bemühen sich drei Menschen, die Hindernisse des Lebens zu bewältigen, 2018 in «Radiance» hinterfragt ein Fotograf in einer mehrdeutigen Parabel den Sinn des Lebens, und in «True Mothers» suchen ein schwangeres Mädchen und ein Paar, das keine Kinder bekommen kann, ihren Weg im Leben.

Das Thema «Wahre Mütter» ist weit verbreitet und, wo es in einem Leben zutrifft, existenziell herausfordernd. Deshalb kann es interessant sein, drei der zahlreichen Filme mit diesem Thema zum Vergleich heranzuziehen: «Like Father, Like Son» des Japaners Hirokazu Kore-eda, «Le fils de l’autre» des Israeli Lorraine Lévy und «Nowhere Special» des Italieners Uberto Pasolini, der nicht das Muttersein, sondern das Vatersein ähnlich intensiv erleben lässt


Adoptivmutter Satoko mit ihrem Kind

Schönheit als Wahrheit

Wie frühere Filme von Naomi Kawase ist auch «True Mothers», der von den biologischen und emotionalen Bindungen des Mutterseins handelt, wunderbar eingebettet in heiteren Optimismus und strahlende Menschlichkeit. Der Film ist von Anfang bis zum Schluss schön! Doch «schön» als Bewertung lässt aufhorchen; denn es gibt schon mehr als genug schöne Filme und schöne Fotografien, die letztlich zwiespältig sind. Erinnert sei an das schöne Porträt «des afghanischen Mädchens» des berühmten Fotografen Steve McCurry. Das Foto, das als Plakat für seine weltweit gezeigten Ausstellungen wirbt, wurde, so wissen wir seit Kurzem, in einem afghanischen Lager aufgenommen, ohne das unmenschliche Umfeld des Mädchens nur zu erwähnen. Der Fotograf hat also, um ein schönes Foto zu schiessen, sozusagen den schönen Kopf aus einem unschönen Umfeld herausgeschnitten, wurde dafür international auch gerügt. Solches macht Naomi Kawase nicht! Bei ihr ist Schönheit immer etwas, das von innen kommt, nach aussen strahlt und in ein Ganzes eingebettet ist.

«True Mothers» basiert auf einer Novelle von Mizuki Tsujimura, zu der Naomi Kawase das Drehbuch schrieb, die Kamera führte und die Regisseurin war, unterstützt von der Musik von Akira Kosemura und An Tôn Thât und verkörpert von Darsteller:innen mit einer sensationellen Performance.


Im «Baby Baton»

Lichtvoll und harmonisch

Als der Produzent den Roman gelesen hatte, war er tief beeindruckt vom ungewöhnlichen Weg, den die beiden Hauptfiguren durchlaufen: die Frau, die sich mit dem Schicksal der Kinderlosigkeit wegen der Unfruchtbarkeit ihres Mannes abfindet, und das Mädchen, das versehentlich vom Freund geschwängert wird. Die Geschichte beschreibt zwei Frauen, die von entgegengesetzten Richtungen an das Muttersein kommen und sich damit auseinandersetzen müssen. Von den Möglichkeiten einer Adoptionsinstitution, wie «Baby Baton» sie bietet, wusste er nichts. Dort treffen Mütter in ihrem je verschiedenen psychischen und familiären Zustand aufeinander. Auf der einen Seite kämpft eine Mutter mit ihren Eltern, für die ihre Schwangerschaft eine Schande ist und sie deshalb eine Abtreibung verlangen. Eine andere Mutter ängstigt sich davor, die Mutterschaft mit ihren neuen Aufgaben zu übernehme. Auf der andern Seite sind es die Frauen, welche die Enttäuschung, nicht selber ein Kind gebären zu können, zu verarbeiten haben. Oder es sind die Frauen, die sich seelisch im Fühlen und Denken hineinzubewegen versuchen, ein fremdes Kind als ihr eigenes anzunehmen und zu lieben. Solche und ähnliche Prozesse laufen bei den Noch-Nicht-Müttern, den Nicht-Mehr-Müttern und den Bald-Müttern ab, und sie gehen tief, sehr tief – bei den Frauen im Film und wohl auch bei uns im Kino.

Naomi Kawase gilt als Spezialistin des Lichts, der Sonne und des Mondes, die das Meer und die Landschaften beleuchten und leuchtet lassen. In ihrem neuen Film gelingt ihr das mit traumhaft schönen und tief bewegenden Bildern. Sie leben in der «Leichtigkeit des Seins», von der Natur und den Sinnen, welche Vernachlässigten und Vergessenen das Wort und das Bild geben. «True Mothers» ist keine Ausnahme in ihrem Oeuvre, sondern vielleicht ihr bisheriger Höhepunkt: in Inhalt, Form und Gehalt ein Meisterwerk!


Der Neugeborene mit den Eltern

Wer sind die wahren Mütter?

Die Geschichte des Spielfilms schwebt über Zeiten und Orte und wirkt in ihrer Authentizität wie ein Dokumentarfilm. Ein Beispiel, dass es im Grunde keinen Unterschied gibt zwischen Dokumentar- und Spielfilm, zwischen Fiction und Non-Fiction. Kunst erschafft immer eine neue Wirklichkeit. «Beim Filmen gibt es immer mal einen Moment, der mich zu Tränen rührt», meint die Regisseurin. Ich möchte ergänzen, dass es für uns während den 140 Minuten wohl nicht nur ein einziges Mal sein dürfte. Für Naomi Kawase sind es die Augenblicke, wenn die Schauspieler:innen ihre Rollen nicht mehr nach dem Drehbuch spielen, sondern dieses mit ihren Emotionen übersteigen, überhöhen. «Mir ist klar», meint sie, «das ist etwas Kostbares und Seltenes», und fährt fort, «wir haben diesen Film so gemacht, als wäre er eine Reise durch die vier Jahreszeiten und an sechs verschiedene Orte in Japan: eine Insel, einen Wald, eine Stadt und an einen historischen Ort.» Ergänzen möchte ich, dass diese Reise auch die Gezeiten des Menschenlebens umfasst.

Durch Wendungen des Schicksals – grossartig veranschaulicht durch die häufigen Zeitsprünge und Ortswechsel – hat sich das Leben eines Ehepaares und das Leben einer jungen Mutter verändert, wurden die beiden Schicksale ineinander verwoben und ist daraus eine unerwartete Utopie eines neuen, andern Mutterseins sichtbar und erlebbar geworden. Und da jeder und jede von uns eine Mutter hat, betrifft dies uns wohl alle. Eine grosse Künstlerin, «die glaubt, dass unsere Welt wunderbar ist», hat uns mit «True Mothers» diese Botschaft hinterlassen.


Die Adoptionsfamilie: Kiyokazu, Asoto und Satoko (v.l.)

Nochmals nachgefragt

Warum die Vertiefung des Themas Muttersein in «True Mothers» so klar erkennbar aufleuchtet, liegt vielleicht auch darin, dass in dieser Story jeder Lebensschritt der Personen, nicht nur jene des Mutterseins, in voller Intensität und mit Detailtreue gezeigt wird, so bei den Szenen der Freundschaft, der jungen Liebe, der Geburt, des Suchens, des Abschieds und des Wiedersehens. All diese Etappen des Lebens sind in langen Einstellungen exakt und eindringlich beschrieben. Vielleicht ist jeder grosse Moment in jedem Leben, so lässt der Film mich weitersinnieren, das Ergebnis eines langsamen, stillen Werdens. Die Natur und das Leben machen keine Sprünge, sie lassen werden, bis das Neue da ist. Vielleicht liegt hier ein versteckter Ansatz, dass der Film auch bei uns zu solchen Tiefen vorzudringen vermag – und dafür seine ***** verdient!

TitelbildHikari, die leibliche Mutter

Regie: Naomi Kawase, Produktion: 2020, Länge: 140 min, Verleih: Filmcoopi

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