Das Berner Mundart-Theater Matte spielt «Die Physiker» zu Ehren von Friedrich Dürrenmatts 100. Geburtstag, pandemiebedingt etwas verspätet, aber nicht weniger aktuell.
Der sprachgewaltige Friedrich Dürrenmatt war zeit seines Lebens an den Naturwissenschaften interessiert, insbesondere an moderner Physik. Mit dem ETH-Physiker Konrad Bleuler war er befreundet. Dass die beiden oft über die Möglichkeiten und Gefahren der Atomkraft diskutierten, können wir uns gut vorstellen. Die Physiker entstand 1961, zu Zeiten als die Weltpolitik vom Kalten Krieg und der Angst vor der Atombombe bestimmt wurde. Was durch die Entwicklung der Atombombe an Zerstörung möglich geworden war, hatte die Menschheit erlebt. Es war zugleich die Zeit, als man an die Atomkraft glaubte, als man Atomkraftwerke baute, obwohl über die Risiken noch viel zu wenig geforscht worden war.
Dies steht im Hintergrund des Stücks, das vom Autor als Komödie bezeichnet, von vielen jedoch als Groteske angesehen wird, angesichts der makabren Bedrohung durch die Studien des Physikers Johann Wilhelm Möbius. Er und seine Forschungsergebnisse über die «Weltformel» bilden den Kern des Stücks. – Es wurde 1962 in Zürich uraufgeführt, mit Therese Giehse in der Hauptrolle als Klinikdirektorin Mathilde von Zahnd neben anderen damals berühmten Schauspielern.
Die Szenen leben durch Sprache und Bewegung
Wie spielt ein Kleintheater ein solches Stück, noch dazu in Mundart, worauf das Theater Matte spezialisiert ist: Indem es sich auf sein «Kerngeschäft» beschränkt: aufs Theaterspielen und das auf professionellem Niveau. Da gibt es keinen Theatervorhang, auf der Bühne kein Mobiliar, keine Fenster, obwohl von denen manchmal die Rede ist. Rechts vorne befindet sich der Ausgang in die Aussenwelt, den Bereich ausserhalb der psychiatrischen Privatklinik; nach rechts hinten gehen die Darstellenden ab, wenn sie sich in andere Klinikräume zurückziehen. Wer auf der komplett weissen Bühne steht, muss also alles selbst erschaffen, durch Sprache, durch Gesten, Bewegungen, Pantomime. Können und Spielwitz sind gefragt, beispielsweise, wenn jemand eine Zigarette braucht – in der Klinik haben nur Patienten das Recht zu rauchen -, muss er das darstellen, ohne Feuerzeug, ohne Zigarette. Dem Ensemble in der Regie von Oliver Stein gelingt das überzeugend.
Hier geht es gerade nicht um Zigaretten, schauen Sie mal die Gesten der beiden an. Von links nach rechts: Samuel Kobel (Newton), Kaspar Weiss (Einstein), Markus Maria Enggist (Möbius)
Mundart gibt den Schauspielerinnen und Schauspielern Authentizität und eine gewisse Autonomie. Es sprechen nämlich nicht alle Darstellenden reines Berndeutsch, was ich mir für den Dramatiker aus Konolfingen durchaus hätte vorstellen können. Nein, ich kann nachvollziehen, dass Samuel Kobel, der im Stück die Figur des Newton spielt, zweimal seufzt, ganz umsonst dieses schwierige Berndeutsch gelernt zu haben, denn in seiner Sprache klingt Hochdeutsch auf.
Mit den drei Physikern entwirft Dürrenmatt wahrlich ein komisch-groteskes Verwirrspiel. Der erwähnte Samuel Kobel spielt einen Physiker, der als Spion Herbert Georg Beutler von einem kapitalistischen Geheimdienst ausgeschickt wurde, um die «Weltformel» von Johann Wilhelm Möbius zu stehlen. Um an Möbius heranzukommen, muss er sich «verrückt» stellen. Das Spiegelbild zum vermeintlichen Sir Isaac Newton ist der Spion des kommunistischen Geheimdienstes Ernst Heinrich Ernesti, gespielt von Kaspar Weiss, der scheint glaubt, er sei Albert Einstein.
Gefahren der Wissenschaft
Zwischen beiden steht Möbius, dargestellt von Markus Maria Enggist. Er zeigt den Physiker, der vorgibt, von König Salomon Botschaften zu erhalten, als melancholischen, desillusionierten Menschen. Er hat sich ins Irrenhaus geflüchtet, damit seine Erkenntnisse nicht ernst genommen werden und die Welt nicht dem zu befürchtenden Untergang geweiht ist. Zu spät! «Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden», sagt Möbius-Dürrenmatt.
Von links nach rechts: Markus Maria Enggist (Möbius), Miriam Jenni (Mathilde von Zahnd), Kaspar Weiss (Einstein), Samuel Kobel (Newton)
Denn diese drei machen buchstäblich ihre Rechnung ohne den Wirt, in diesem Fall die «Wirtin», Mathilde von Zahnd, Chefin der psychiatrischen Privatklinik, gespielt von Miriam Jenni. Während Dürrenmatt seinen ursprünglichen Plan, einen Mann als Klinikchef einzufügen, änderte, da er sich als Gegenspielerin zu den drei «verrückten Physikern» eine «verrückte Frau» vorstellte, im Text ist sie als verkrüppelte Greisin beschrieben, konzipiert Miriam Jenni ihre Rolle sehr zeitgemäss als aalglatte, machtgierige, rücksichtslose Managerin – sie könnte auch eine eiskalte Cyberkriminelle sein. Es steckt viel Zynisches in diesem Stück. Auch die Liebe kann sich nicht entfalten, Oberschwester Marta Boll, dargestellt von Danièle Themis, muss sterben, wird erwürgt. – Abgewürgt wird, was mit Menschlichkeit zu tun hat.
Die Aktualität dieses sechzig Jahre alten Stücks ist beklemmend, nur in komischer Brechung zu akzeptieren. Darin ist Friedrich Dürrenmatt stark. Damit nicht genug. Grosse Themen wie Gerechtigkeit lässt der gewichtige Schriftsteller auch in Nebenrollen aufblitzen. Kommissar Voss, dargestellt von Roman Weber, zeigt sich schliesslich erfreut, dass er diesmal nicht für scheinbare Gerechtigkeit sorgen muss: «Die Gerechtigkeit macht zum ersten Mal Ferien, ein ergreifendes Gefühl. Gerechtigkeit strengt nämlich enorm an . . .», dies wiederum ein Thema, das Dürrenmatt intensiv beschäftigte. Aufs Ganze gesehen, kommen in dieser Aufführung der ethische Hintergrund und die düstere Prognose, die in Dürrenmatts Werken an vielen Stellen – auch in den Physikern – aufscheinen, etwas zu kurz.
Von links nach rechts: Samuel Kobel (Newton), Markus Maria Enggist (Möbius), Kaspar Weiss (Einstein)
Witzig sind die Anspielungen auf die Regeln der Pandemie: Alle ausser den «Patienten» müssen Maske tragen und die Hände desinfizieren. – Die Masken sieht man, die Desinfektionsflasche nicht. Via Grossbildschirm findet die Szene statt, in der Möbius› geschiedene Frau mit ihren Söhnen zu Besuch kommt, um sich zu verabschieden, da sie mit ihrem neuen Ehegatten, einem Missionar, auf die Marianen auswandert,– ein raffinierter Einfall, findet die Zuschauerin.
Im Programmflyer schreibt das Theater Matte, dies sei das erste Mal, dass auf dieser Bühne ein Stück von Friedrich Dürrenmatt aufgeführt werde. – Es ist ein erfolgreicher Einstieg.
Weitere Spieldaten: ab 28. Dezember 2021 bis 21. Januar 2022
Alle Informationen
Titelbild: von links nach rechts: Samuel Kobel (Sir Isaac Newton), Markus Maria Enggist (Johann Wilhelm Möbius), Kaspar Weiss (Albert Einstein).
Alle Fotos: © Rolf Veraguth /Theater Matte
Als Fan von Dürrenmatt und vom Theater Matte kann ich nur sagen: Gut getroffen, Maja!