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Die Rationalität des Bösen

Der Angriffskrieg gegen die Ukraine ist eine Manifestation des Bösen schlechthin. Er zielt darauf ab, andere Länder und ihre Bevölkerung zu unterwerfen und für eigene Zwecke zu instrumentalisieren. Widersetzen sich die Menschen solchen Machtansprüchen, werden sie getötet, oft vorher auch noch gefoltert. Das gilt auch für die eigene Bevölkerung. Wer sich dem Angriffskrieg verweigert, wird umgebracht. Dahinter steht die nackte Gier nach Macht über andere Menschen, welche nach der Logik und Rationalität des Bösen funktioniert. Wie
sich solche Machtbesessenheit entwickeln kann, wissen wir nicht. Und selbst wenn es eine Erklärung dafür gäbe, wäre sie keine Entschuldigung für böses Handeln. Entsprechend ist auch jeder Erklärungsversuch als Entschuldigung, warum Russland diesen Angriffskrieg gestartet haben könnte, zurückzuweisen. Scheitern diese Machtansprüche, ist die Selbstauslöschung die logische Konsequenz, um sich der Bemächtigung durch andere Menschen zu entziehen. Entsprechend hat sich auch Adolf Hitler am 30. April 1945 umgebracht. Despoten ist auch die Auslöschung der eigenen Bevölkerung gleichgültig, denn auch diese ist nur Mittel zum Zweck ihres eigenen gierigen Machtbedürfnisses. Auch im Krieg zwischen Russland und der Ukraine ist deshalb bei Wladimir Putin und seiner Führungsriege mit dieser Bereitschaft zur Selbstauslöschung und zur Preisgabe des russischen Volkes bei einem atomaren Austausch zu rechnen, sollte sich ein Scheitern abzeichnen. Die Alarmbereitschaft der Nuklearstreitkräfte, welche Putin ausgelöst hat, könnte darauf hinweisen.

Es ist daher eine Illusion zu glauben, dass Putin und seine Führungsriege von selbst zur Vernunft kommen werden, sollte sich ein Scheitern des Angriffskriegs abzeichnen. Ganz im Gegenteil, wie im Tschetschenien-Krieg ist mit Gewaltorgien zur rechnen. Dieser derzeitigen Macht des Bösen können nur Machtmittel entgegengesetzt werden. Die grosse Bereitschaft der europäischen Länder aufzurüsten deutet auf die düsteren Aussichten eines kalten Kriegs hin, der auf dem Gleichgewicht des Schreckens und dem damit einhergehenden Wettrüsten basiert. Die Handlungsmaxime Willi Brandts, «Wandel durch Handel», wurde fast über Nacht durch diejenige der «Widerbewaffnung» Konrad Adenauers ersetzt. Doch nichtkriegerische Sanktionen sind nur möglich, wenn zuvor Handelsbeziehungen und Verflechtungen bestanden haben. Nur weil Russland Teil der Uno und des Swift war, kann es davon ausgeschlossen werden. Gleichzeitig aber zeigt die Aggression Russlands auch, dass es ohne Wehrbereitschaft nicht geht.

Der gewaltfreie Widerstand setzt eine Begegnung von Mensch zu Mensch voraus. Dies haben wir soeben eindrücklich in der Kleinstadt Korjukiwka in der Ukraine gesehen, wo sich der Bürgermeister zusammen mit zahlreichen unbewaffneten Einwohnern erfolgreich russischen Panzern entgegenstellte, um sie von der Weiterfahrt nach Kiew abzuhalten. Doch dieser Erfolg darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass im modernen Krieg Begegnungen von Mensch zu Mensch bei Luftangriffen usw. gerade ausgeschaltet werden. Und im Tschetschenien-Krieg nützten auch die Plakate vor Kellertüren nichts, auf denen stand: «Hier sind Menschen.» Viele werden, wenn sie einmal von der Dynamik des Bösen im Krieg erfasst werden, zu vergewaltigenden Monstern.

Wie die heutige Situation zeigt, braucht es beide Handlungsmaximen, sowohl diejenige des «Wandels durch Handel» als auch diejenige der militärischen Wehrbereitschaft. Langfristig stellen sich Fragen nach den Voraussetzungen und Rahmenbedingungen der beiden. Es war die Erkenntnis nach dem Zweiten Weltkrieg, dass der Anspruch jedes Menschen auf Menschenwürde und Menschenrechte unabdingbare Voraussetzung für den Weltfrieden ist. Damit einher gehen Gerechtigkeitsansprüche hinsichtlich der Verteilung natürlicher Ressourcen usw. Handelspartnerschaften und militärische Wehrbereitschaft müssen zwingend an diese humanen Voraussetzungen gebunden werden. Dies gilt nicht nur für die Beziehungen zu Russland. Der Angriffskrieg Russlands gegen ein demokratisch regiertes Land sollte auch ein Weckruf sein, die Beziehungen mit China an die Bedingungen der Menschenwürde und der Menschenrechte zu knüpfen. Die Handlungsmaxime «Wandel durch Handel» genügt auch im Umgang mit China nicht. Die Expansion Chinas ist ebenfalls höchst beunruhigend. Die Situation in Taiwan kann sehr rasch eskalieren, auch dort stehen die Zeichen schon längere Zeit auf Sturm. Auch dort muss wohl defensive Wehrbereitschaft des Westens vorhanden sein.

Grundsätzlich aber gilt, dass alle niederschwelligen Handlungsmöglichkeiten zwingend ausgeschöpft werden müssen, bevor militärische Mittel zum Einsatz kommen. Dazu gehören Abrüstungsbemühungen, nichtmilitärische Sanktionen und gewaltfreier Widerstand. Wie die Situation in der Ukraine aber zeigt, kann als Ultima Ratio auf die Möglichkeit, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, angesichts der Logik des Bösen nicht verzichtet werden. Doch ob atomare Abwehrmöglichkeiten auch in diesem Krieg der Ukraine mit Russland als Gegendrohung eingebracht werden können und sollen, ist mehr als fraglich. Was für Leid und Horror ein atomarer Schlagabtausch zwischen Russland und westlichen Staaten bedeuten würde, ist für mich hier am Schreibtisch einfach nicht vorstellbar.

Mit der Logik des Bösen ist zu rechnen. Dies gilt es auch bei der Entwicklung von militärischen Mitteln zu bedenken. Die Entwicklung der Atombombe kann nicht mehr rückgängig gemacht werden, ihre Anwendung hingegen schon. Die Zukunft der ganzen Menschheit ist durch die Weiterentwicklung der biologischen Waffen gefährdet. Die Corona-Pandemie hat deutlich gezeigt, dass Viren sich in Windeseile über den ganzen Erdball verbreiten können. Der gegenwärtige Entwicklungsstand der biologischen Waffen ist unklar. Höchst beunruhigend ist, dass die Gain-of-Function-Forschung im Gegensatz zu den biologischen und den chemischen Waffen nicht verboten ist. Vor dem Hintergrund dieses weltweiten Gefahrenpotentials verlangen führende Wissenschafterinnen und Wissenschafter in der «Hamburger Erklärung 2022» ihr Verbot. Eine Atombombe löst unvorstellbares Leid aus, welches dem Menschen von aussen zugefügt wird. Biowaffen sind von aussen nicht so leicht erkennbar, ihre Wirkung aber ist genauso desaströs, wenn nicht sogar desaströser für die Menschheit als Nuklearwaffen. Gain-of-Function-Forschung zu verbieten, ist ein Gebot der Stunde, es nicht zu tun, ist naiv und verkennt die gefährliche Macht der Rationalität des Bösen.


Dr. theol. Ruth Baumann-Hölzle ist Leiterin des Instituts Dialog Ethik

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