StartseiteMagazinKulturAuf der Putzfraueninsel

Auf der Putzfraueninsel

Eine Schriftstellerin unterwegs für ein Buchprojekt über Jobs der tiefsten Lohnklasse. Emmanuel Carrère schildert in seinem anteilnehmenden und spannenden Spielfilm «Ouistreham» das Leben der Frauen, die dort arbeiten, und gleichzeitig den Konflikt, darüber undercover zu schreiben. 

Die bekannte Schriftstellerin Marianne Winckler taucht für ihr neues Buch ein in die Welt der prekären Arbeit einer Putzbrigade im Fährhafen von Ouistreham in der Normandie. Der Undercover-Film ist im Grunde das Projekt der Hauptdarstellerin Juliette Binoche. Sie findet hier neben einem halben Dutzend anderer Frauen eine Stelle als Putzfrau und lernt das Leben mit ein paar Euro in der Tasche kennen. Das stellt für alle einen Kraftakt dar, doch nicht nur das. Während sie alle in diese Welt eintauchen, entstehen Beziehungen: Aus gegenseitiger Hilfe entsteht Freundschaft und aus Freundschaft Vertrauen. Doch was passiert, wenn die Wahrheit über Mariannes Einsatz ans Licht kommt?

Der frei nach dem Buch «Le Quai de Ouistreham» der französischen Journalistin Florence Aubenas adaptierte Film von Emmanuel Carrère hat eine doppelte Dimension: Einerseits lässt er verfolgen und Anteil nehmen, wie diese Frauen leben, was sie denken und fühlen. Anderseits untersucht er die Rolle des Undercover-Journalismus, der Unsichtbares sichtbar zu machen versucht. – Ältere Semester unter uns erinnern sich vielleicht noch an den berühmt-berüchtigten, 1942 geborenen deutschen Investigativ-Journalisten und Schriftsteller Hans-Günter Wallraff, der mit seinen verdeckt entstandenen Reportagen immer wieder Aufsehen und Aufregung auslöste.

Auch Freizeit erleben die echte und die inkognito Arbeiterin verschieden

Wie kam es zum Film «Ouistreham»?

Auf die Frage, wann sie der Erzählung von Florence Aubenas erstmals begegnet sei, antwortet Juliette Binoche in einem Interview: «Wahrscheinlich 2010, als sie veröffentlicht wurde. Cédric Kahn hatte mir die Lektüre empfohlen. Ich war begeistert. Kurz darauf sagte er mir jedoch, ich soll die Finger davonlassen, da die Autorin sich weigere, die Rechte für eine Adaption abzutreten. Für sie war es eine alte Geschichte, auf die sie nicht mehr zurückkommen wollte. Ich bin ziemlich stur, wenn mir ein Projekt am Herzen liegt, so fragte ich bei Florence nach, die mir sagte, dass sie nur zustimme, wenn Emmanuel Carrère das Drehbuch schreibe. Emmanuel aber war momentan nicht verfügbar. Um den Fisch aber dennoch an Land ziehen zu können, schlug ich vor, dass Emmanuel nicht nur das Drehbuch schreiben, sondern auch den Film inszenieren soll. Nach mehreren Treffen mit Emmanuel und Florence stimmte sie zu. Die Sache nahm nun ihren Lauf.»

Emmanuel Carrère, ebenfalls in einem Interview: «Es gab eine erste Idee, die zu einem Drehbuch führte, das ich mit Hélène Devynck schrieb. Nach vielem Herumprobieren sind wir von einer buchnahen Adaption abgerückt und dazu übergegangen, die Gemütszustände der Frauen ausführlich zu schildern, wie ich es in meinen Filmen liebe: hier die Freundschaften, die sich enger und intimer als anderswo entwickeln. Ich entschied mich, diese und ihre Folgen zentral zu behandeln und folglich auch das Gefühl des Verrats zu thematisieren, wenn die Protagonistin zugibt, dass sie eine Schriftstellerin ist.»

Wie verlief das Casting?

Auf die Frage nach der Arbeitsmethode antwortete der Regisseur: «Unser Entscheid bestand darin, sehr früh mit dem Casting zu beginnen. Ich verbrachte viel Zeit in der Hafenstadt Caen und lernten dabei viele Leute kennen, die uns Informationen gaben, die uns weiterhalfen. Von Anfang an stand fest, dass wir neben Juliette Binoche nur Laien besetzen würden. Zwei Figuren aus dem Buch spielen sich selbst: Nadège, die Vorarbeiterin auf der Fähre, und Justine, die gegen Ende ihre Abschiedsparty feiert. Die beiden bilden so etwas wie einen Rahmen für die Geschichte. Evelyne Borée, die Nadège spielt, die erste, die ich gesehen hatte, war von Florence, der sie nahestand an mich verwiesen worden. Diese Begegnung hatte etwas Magisches: Nachdem sie eine kurze Szene gespielt hatte, stellte sie innerhalb von Sekunden fest, dass sie spielen möchte, selbstverständlich, denn ihre Authentizität als Putzfrau hatte sie nie verloren.» Und wie verlief das Casting weiter? «Es war abwechslungsreich: entweder Improvisationen zu Themen aus dem Film oder Gespräche, in denen die Frauen über sich selbst sprachen. Nachdem die Besetzung abgeschlossen war, hatten wir während sechs Monaten bis zum Dreh alle zwei Wochen Workshops in Caen. Auf diese Weise lernten wir und die Schauspielerinnen uns gegenseitig kennen. Wir wurden eine verschworene Truppe. Alle waren glücklich über diese Treffen, bei denen es vordergründig um nichts ging, auch bloss mit einer kleinen Kamera gefilmt wurden. So kamen wir sanft zu den Dreharbeiten.»

 Marianne Winckler (Juliette Binoche) in ihrer schwierigen Doppelrolle

Zwei Seiten der Medaille

«Ouistreham» schildert eindrücklich und berührend das alltägliche Leben einer Gruppe unterprivilegierter Frauen: ihre persönlichen, privaten, familiären Sorgen, ihren permanenten Stress bei der Arbeit und ihre Angst, den Job zu verlieren. Gleichzeitig lässt uns der Film Anteil nehmen an den sich entwickelnden Beziehungen zwischen den Putzfrauen, die sich allmählich zu Kameradschaften mit kollegialem Teamgeist und schliesslich zu tiefen Freundschaften entwickelten. Überzeugten die Laiendarstellerinnen und mussten kaum geführt werden, weil sie ihr eigenes Leben spielten, so profitierte Juliette Binoche von ihrer Professionalität und ihrer Leidenschaft für das Thema. Unterstützt wird ihr Spiel vom abwechslungsreichen Drehbuch von Hélène Devynck und Emmanuel Carrère, der intimen, doch nie voyeuristischen Kamera von Patrick Blossier und der Musik von Mathieu Lamboley, die Akzente und Zäsuren setzt.

«Ouistreham» erweist sich als eindrückliche Sozialdrama einer von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommenen Lebenswelt. Es zeigt Hintergründe und Innenansichten, indem mit schriftstellerischer Kompetenz und mit Empathie menschliches Elend und Leid, aber auch Liebenswürdigkeiten wahrgenommen werden können. Für Marianne im Film und Juliette auf dem Set eine nicht immer leichte Doppelrolle! Journalist:innen wie Schriftsteller:innen leben dafür und davon, dass sie Öffentlichkeit schaffen, sichtbar und hörbar machen, was für die meisten unbekannt ist. Die Hauptprotagonistin kommt mit dieser Aufgabe, die ethisch zwar legitimiert ist, in ein Dilemma, sobald sie ihre Arbeit als Putzfrau aufgibt, wenn das Buch geschrieben ist, und sie wieder ihren privilegierten Status als Schriftstellerin einnimmt. Das schmerzt sie, was der Film diskret andeutet, und von einigen ihrer auf dem Schiff zurückbleibenden und Putzfrauen und Freundinnen als Verrat erlebt wird.

«Ouistreham»: eine Geschichte von Verrat und Lüge? Emanuel Carrère dazu: «Das ist das grundlegende Thema. Marianne, meine Figur, ist nicht Journalistin wie im Buch von Florence Aubenas, sondern eine Schriftstellerin, die beschliesst, sich in einem Winkel des Elends dieser Frauen aufzuhalten und versucht, dabei als Intellektuelle unbemerkt zu bleiben. Natürlich hat sie etwas von einer Spionin oder einer Detektivin. Sie ist wie eine Schauspielerin, die eine Figur erforscht, um den entscheidenden Punkt zu erreichen, von dem aus die Gefühle wahr werden. Marianne ist mitten unter den anderen, aufrichtig mit ihnen und gleichzeitig auf Distanz, wenn sie sich in einem Heft Notizen macht, die sie am Abend in den Laptop tippt. Wo liegt da die Grenze zwischen Wahrheit und Lüge? Wie weit darf man lügen, damit Wahrheit ans Licht kommt?»

Titelbild: Echte Arbeiterinnen und die verdeckt recherchierende Buchautorin

Regie: Emmanuel Carrère; Produktion: 2021, Länge: 106 min, Verleih: Frenetic

Rabatt über Seniorweb

Beim Kauf einer Limmex-Notruf-Uhr erhalten Sie CHF 100.—Rabatt.

Verlangen Sie unter info@seniorweb.ch einen Gutschein Code. Diesen können Sie im Limmex-Online-Shop einlösen.

Beliebte Artikel

Mitgliedschaften für Leser:innen

  • 20% Ermässigung auf Kurse im Lernzentrum und Online-Kurse
  • Zugang zu Projekten über unsere Partner
  • Massgeschneiderte Partnerangebote
  • Buchung von Ferien im Baudenkmal, Rabatt von CHF 50 .-

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein