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Wir stecken immer im Relativen

Ich bin am Aufräumen; und dabei findet man bekanntlich immer wieder Interessantes. Dieses Mal fällt mir eine CD in die Hände, die aus dem Jahr 1986 stammt.

In einem eindrücklichen Interview im Deutschen Fernsehen wurde die Schweizer Philosophin Jeanne Hersch gefragt, was Gott für sie bedeute. Sie überlegte einen Moment und antwortete: «Er ist das Verborgene.» Er ist also das, was wir nie kennen können. Er ist ein Absolutes, das ausserhalb von Zeit und Raum, ausserhalb unseres Hier und Jetzt sein muss oder sein kann. Wir Menschen hingegen stecken immer im Relativen. Im Relativen, weil alles, was wir tun oder sehen oder sagen oder erklären, aus einem Moment von einer Person oder vielen unterschiedlich betrachtet oder beurteilt wird. Die absolute Wahrheit finden wir nicht im Hier und Jetzt. Wir können ihr im besten Fall näherkommen, wenn wir einen Dialog führen.

Daran sollten wir uns immer wieder erinnern: Wir Menschen, wir stecken immer im Relativen. Zu dieser Aussage kommt mir ein unvergessliches, persönliches Erlebnis in den Sinn:

Ende der 70er-Jahre reiste ich in einer Gruppe nach China. Es war 1978, als die damalige Fluggesellschaft Swissair neu Gelegenheit hatte, Flüge nach Peking anzubieten. Von meiner Kindheit an hatte ich in meinem Kopf die nicht weiter hinterfragte Idee, dass Chinesen, wie eben etwas altmodisch in den Kinderbüchern dargestellt, Strohhüte tragen und eine gelbe Haut haben. Auf jeden Fall war man sich wie heute einig darüber, dass wir Europäer im Unterschied dazu weiss sind. An einem Morgen beim Frühstück in einem Hotel in Peking fragten wir zum Spass die einheimischen Reiseführerinnen, welche Farbe unsere Haut hätte und wie sie die ihrige beurteilten. Die Frage erstaunte zuerst. Dann kam die prompte Antwort, dass sie sich als weiss betrachteten. Und, um Gottes Willen, welche Farbe gehört denn zu uns? Wir seien rosa! Ironie des Schicksals: Ein neues «Weltbild» tat sich uns auf. Wie relativ war doch alles! Wir staunten und lachten alle zusammen. Vierzig Jahre lang war ich der Meinung gewesen, dass ich weiss sei. Und nun plötzlich war ich rosa. Ich habe diesen Moment einer fast komischen Relativierung und damit diese plötzliche Neuorientierung nie vergessen!

Es begegnen uns allen im Laufe unseres Lebens immer wieder Momente, in denen wir umdenken müssen, weil wir etwas Gewohntes plötzlich in einem anderen Licht erfahren und merken, dass es Menschen gibt, die ein für uns Gegebenes anders sehen als wir. Wir erleben, dass eine Ansicht, die für uns eine unbestrittene Tatsache ist, sehr wohl für jemand anderen eine ganz andere sein kann. Um sich aber zu verstehen, muss man sich bemühen, ein möglichst ähnliches Verständnis einer Sache zu suchen. Im Dialog. Und trotz dieser Anstrengung bleiben vielleicht am Schluss unterschiedliche Ansichten nebeneinanderstehen, die von den Diskutierenden akzeptiert werden. Ein Zeichen von gegenseitiger Achtung.

Ansichten preiszugeben erfordern von uns also oft einen behutsamen, von Toleranz geprägten Umgang mit Worten und Begriffen, wenn wir in gesellschaftlicher Runde keinen Unfrieden stiften wollen. Das veranlasst mich, noch ein zweites persönliches Erlebnis zu erzählen. Es ist eine Spur ernster als das erste.

Mit 20 Jahren verlobte ich mich mit einem ägyptischen Studenten, der in der Schweiz doktorierte. Eine solche Verbindung war damals eher ungewöhnlich, weil seltener als heute. An einem Tag gestand ich meinem Auserwählten schweren Herzens, dass er für meine Eltern ein «Heide» sei. Er überlegte eine Weile, schaute mich an und sagte dann: Liebe Mona, für meine Eltern bist du auch eine «Heidin»! So eine Antwort hatte ich nicht erwartet. Sie relativierte alles und lehrte mich viel für mein Leben. Bis heute blieb dieses Erlebnis für mich eine eindrückliche Lektion.

«Wir stecken immer im Relativen!» sagte Jeanne Hersch, und sie rät uns, in schwierigen Belangen – in politisch oder in gesellschaftlicher Runde – verknorzte Momente, ideologisierte Behauptungen zu entflechten, indem wir sie relativieren. Wenn eine Partei zum Beispiel eine absolute Forderung stellt, ist es ratsam, darauf aufmerksam zu machen, dass Teile der Forderung vielleicht diskutabel sind, andere sich aber bewährt haben. Das relativiert. Es entlastet. Es macht nachdenklich. Rote Linien sind selten auf die Länge haltbar; sie sind zu absolut, vor allem in einer rasch sich ändernden Zeit.

In der gleichen Art sollten wir mit Clichés umgehen. Wir leben in einer Zeit, in der stark polarisiert wird, in der Clichés zum täglichen Vokabular gehören und Vorurteile selten zum Guten angewendet werden. Vielmehr teilt diese Mode allzu vieles viel zu simpel ein in Befürworter und Gegner, oder sogar in Freunde und Feinde. Diese Polarisierung fördert in keiner Weise den Dialog. Doch der Dialog ist das A und O der demokratischen Ordnung.

Zu meiner politisch aktiven Zeit war es verpönt, quasi in einer Mitte zu politisieren: Die Mitte, sie hat keine Ecken und Kanten, sagte man! Sozial-liberal? Mitte? Was soll das heissen? Weder Fisch noch Vogel! Heute wissen wir, dass eine möglichst breite, demokratische Mitte in einer Gesellschaft eine wichtige stabilisierende Funktion haben kann, weil sie den Kompromiss ermöglicht.

Wir stecken alle im Relativen! Vielleicht sollten wir manchmal stillstehen und staunen darüber, was es alles gibt, was alles behauptet wird und was alles doch auch ganz anders sein kann.

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1 Kommentar

  1. Die Aussage, dass doch alles auch ganz anders sein kann, als wir das im Moment wahrnehmen, ist so einleuchtend und sollte für das menschliche Denken und Handeln fundamental sein. Relativ heisst, alles steht im Verhältnis und in Beziehung zu etwas anderem. Es gibt nun mal keine endgültige Wahrheit und demzufolge sollten wir Menschen doch eigentlich einsehen, dass nur der Dialog, die Rede und Gegenrede und, im besten Fall, ein daraus hervorgehender und für alle annehmbarer Kompromiss, uns weiter bringt.

    Soweit so gut oder eben nicht gut. Wieso gibt es immer mehr Polarisierungen und immer wieder die Aussage: Ich habe recht und du nicht? Das Problem ist aus meiner Sicht, die ja relativ ist, das menschliche Unvermögen ohne Not das eigene Ego infrage zu stellen. Die Menschen müssen recht haben, damit sie sich stark fühlen. Und bei nicht wenigen, sie müssen sich sogar über alle anderen erheben, damit sie sich stark fühlen können. Und meistens müssen diese Menschen auch ein Feindbild haben, da sie Probleme ja nicht auf sich beziehen. Die Zeigefingerpolitik kennen wir auch in der Schweiz gut.
    Da kommen mir die «Herrenmenschen» Nazi-Deutschlands in den Sinn oder all die Diktatoren dieser Welt, die glauben, dass nur ihre Sicht der Dinge zählt und alles andere keine Stimme haben darf und unterdrückt werden muss. Jedes Mittel ist ihnen recht, ihr Ego durchzusetzen. Was diese Despoten in unserer Menschheitsgeschichte angerichtet haben und immer noch anrichten, ist einzig Tod und Elend für so viele Völker und die Zerstörung der Natur durch kriegerische Aggression und die Anwendung von Vernichtungswaffen.
    Ich frage mich angesichts aktueller Kriege weltweit, warum lernen wir so wenig aus der Geschichte? Wollen wir Krieg? Eine dumme Frage, die kaum jemand bejahen wird. Aber warum ändern wir nicht unser Verhalten, unser Denken und ermöglichen damit weiterhin, dass es Krieg und Elend gibt?

    Wie Jeanne Hersch bin ich der Meinung, dass Gott und die absolute Wahrheit, für uns nie erreichbar sein wird. Für mich ist Gott oder das Göttliche, die seit Urzeiten von Menschen formulierte Kraft, die uns helfen soll, unserem Dasein und unserem Handeln einen Sinn zu geben. Zu diesem Schritt beigetragen hat wohl auch die Erkenntnis, dass der Mensch letztendlich die Natur und den Himmel nicht bezwingen kann.
    Herr Professor Harald Lesch, Astrophysiker, Naturphilosoph, Wissenschaftsjournalist, Fernsehmoderator und Hörbuchsprecher, macht klar, dass unser Planet und alles was darauf lebt, also auch wir Menschen, ein Zufall der Evolution ist und, simpel ausgedrückt, aus Sternenstaub besteht.

    Für mich ist dies ein schöner und tröstlicher Gedanke. Er relativiert vieles und ist hilfreich, mich in den Wirren der menschlichen Existenz einigermassen zurechtzufinden.

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