StartseiteMagazinKolumnenDemokratie und Rechtsstaat stehen unter Druck

Demokratie und Rechtsstaat stehen unter Druck

Gemäss dem Demokratie-Index des britischen Analyse-Unternehmens «Economist Intelligence Unit» lebten 2021 nur knapp 46% der Weltbevölkerung in einer Demokratie. 2020 waren es noch über 50%. Autoritäre Regime sind auf dem Vormarsch. So istz. B. Spanien aufgrund einer zunehmenden Verflechtung von Staat und Justiz auf Platz 24 zurückgefallen. Die Schweiz liegt auf Rang vier, Norwegen ist Spitzenreiter. 2021 lebten nur gerade 6,4% der Weltbevölkerung in einer «vollwertigen Demokratie», 37% in einer Diktatur. Der Anteil der autoritär regierten Staaten steigt kontinuierlich.

Doch auch die demokratische Verfassung eines Landes bildet für das Fortbestehen von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie keine Garantie. Sie macht es sogar möglich, mit demokratischen Mitteln die Demokratie abzuschaffen und eine Diktatur zu errichten. In vielen der totalitären Staaten kamen die Machthaber über Volksabstimmungen an die Macht. Die Demokratie als Staatsform allein schützt also nicht vor der Etablierung eines Unrechtsstaats. Hierzu bedarf es des Bewusstseins der Wertvorstellungen, auf denen eine Demokratie gründet, in einer breiten Bevölkerung, Wertvorstellungen, die gegen Rechtsstaat und Demokratie gerichtete Entscheide nicht zulassen. Die moderne Demokratie basiert auf dem Grundsatz der Menschenwürde und des Integritätsanspruchs jedes Menschen. Doch dieser Grundsatz wird in demokratischen Abstimmungen zunehmend infrage gestellt. Die Demokratie zersetzt sich damit von innen her.

Der Begriff der Freiheit wandelt sich ebenfalls. Er bedeutet nicht mehr nur, über sich selbst verfügen zu können, sondern wird zunehmend zum Anspruch auf Massnahmen, die die Integrität anderer Menschen verletzen. Dies zeigt sich in den Auseinandersetzungen um die Fortpflanzungs- und Transplantationsmedizin, aber auch beim Datenschutz. Aufschlussreich erscheint die Äusserung eines Nationalrats im Zusammenhang mit der Abstimmung zur Widerspruchsregelung in der Schweiz (NZZ vom 1. 4. 2022): «Das Risiko, dass Organe von jemandem entnommen werden, der das möglicherweise nicht gewollt hätte, ist mir weniger wichtig als die Möglichkeit, Leben zu erhalten und Leben zu retten.» Damit entfällt der Anspruch des Einzelnen auf seine körperliche Integrität, der bisher als selbstverständlich galt, und zwar nicht erst nach dem Hirntod, sondern bereits für urteilsunfähige Patientinnen und Patienten auf der Intensivstation, die noch vor ihrem Hirntod für eine Organentnahme vorbereitet werden müssen, sobald entschieden ist, dass bei ihnen die lebenserhaltenden Massnahmen ausgesetzt werden dürfen.

Mit der Widerspruchsregelung bei der Organentnahme würde eine allfällige Instrumentalisierung des Menschen in Kauf genommen. Damit vollzöge sich beim Handeln des Staates ein Paradigmenwechsel. Der Einzelne müsste in der Schweiz künftig selber für den Schutz seiner Integrität gegen Übergriffe von Staat und Gesellschaft besorgt sein. Es entstünde so auch ein Präzedenzfall, dem weitere Einschränkungen der Grundrechte folgen könnten, so z. B. beim Sammeln medizinischer Daten.

Statt den Anspruch des Individuums auf seine Integrität zu relativieren, ginge es vielmehr darum, diesen in der schweizerischen Bundesverfassung vor dem Hintergrund der Notwendigkeit des Datenschutzes auszuweiten und Art. 10 BV entsprechend zu erweitern: Nicht nur die physische und psychische Integrität sind zu schützen, sondern auch die soziale.

Ein Rechtsstaat muss die Unverletzlichkeit jedes in ihm lebenden Menschen selbstverständlich schützen. Mit den Worten von John Rawls: «Jeder Mensch besitzt eine der Gerechtigkeit entspringende Unverletzlichkeit, die auch im Namen des Wohls der ganzen Gesellschaft nicht aufgehoben werden kann» (Eine Theorie der Gerechtigkeit, Suhrkamp, Frankfurt 1975, S. 19)


Dr. theol. Ruth Baumann-Hölzle ist Leiterin des Instituts Dialog Ethik

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1 Kommentar

  1. Es kann einem schon gschmuech werden, wenn man sich den Rückgang demokratisch regierter Staaten bewusst wird und das mühsam erarbeitete demokratische Gedankengut immer mehr an Wert verliert.

    Besonders die Schweiz glaubt sich ja mit ihrer direkten Demokratie und „Neutralität“ auf der sicheren Seite. Ich erinnere mich jedoch noch gut an die Äusserungen von Herrn Blocher SVP, als er noch im Nationalrat sass und lauthals bekundete, das bestehende Politsystem müsse geändert werden, die da oben seien, nach seinen Vorstellungen natürlich, nicht volksnah genug. Der Angstmacherei des Herrn Blocher und seiner Partei vor der Abstimmung zum Beitritt der Schweiz zum EWR haben wir es auch zu verdanken, dass diese sehr knapp abgelehnt worden ist. Ein Beitritt zum EWR hätte uns eine reibungslose Integration in den Europäischen Wirtschafsraum und ein Mitsprecherecht in Europa ermöglicht. Unsere Bundesräte und Bundesrätinnen müssen deshalb seit Jahren, mit viel Mühe und Zeitaufwand, bilaterale Verträge mit andern Ländern aushandeln, damit unsere Exporte in diese Länder weiterhin funktionieren.

    Das wiederum gibt der SVP immer wieder Anlass zum kritisieren und «spielen auf den Mann resp. die Frau». Mit der Feindbild- und Fingerzeig-Politik der SVP und mit ihren z.T. menschenverachtenden Wahlplakaten fühle ich mich schon lange nicht mehr wohl und oft schäme ich mich fremd, wenn ich von Auswärtigen darauf angesprochen werde.
    Angst schüren beim Volk und undifferenzierte, simple Darstellungen von Sachverhalten, ist seit jeher die Devise der SVP. Es braucht jedoch keinen Mut immer wieder anders denkende anzuklagen, wenn man so viel Geld im Rücken hat wie Herr Blocher und andere reiche Wirtschaftsvertreter, die nur Macht und Geld als oberste Priorität im Auge haben.

    Das längst von der Realität überholte Gedankengut dieser meist alten Männer, basiert lediglich auf einem sehr grossen Ego und ihrem Unvermögen, die Welt, wie sie heute ist, zu sehen und zu akzeptieren und das Alte loszulassen. Und sie ist zutiefst ungerecht und undemokratisch. Ich kann mir deshalb gut vorstellen, wenn solche Männer und Frauen und ihre Vorstellungen von Demokratie in der Schweiz an die Macht kommen sollten, auch wir eine einseitige und manipulative Regierung bekommen könnten. Dann würde sich die direkte Demokratie tatsächlich von innen auflösen.

    Demokratie heisst Dialog, ein gegenseitiges, respektvolles Zuhören und respektieren anderer Meinungen, ohne die Ränkespiele, wie sie seit langem im Bundeshaus und unter starker Beeinflussung zahlreicher Lobbyisten vor sich gehen. Wenn dann noch das Verbreiten von Angst und Unsicherheit in der Bevölkerung dazukommt, sind wir nicht mehr weit von der Denk- und Handlungsweise einer Diktatur.

    Vor dieser, zugegeben sehr negativen Betrachtung, wünschte ich mir, dass jede und jeder sich überlegt, was für ihn Freiheit in einer Gemeinschaft bedeutet und was jeder einzelne dafür tun kann. Die Frage ist doch nicht, was kann der Staat für uns tun, die Frage sollte lauten, was können wir für unseren demokratischen Staat tun, damit wir alle in Frieden und Freiheit leben können.

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