Es war ein erhellendes, aber letztlich auch ein verstörendes Bild, das das staatsgelenkte russische Fernsehen über das weltumspannende Bildnachrichten-Austauschsystem News Exchange verbreiten liess: Wladimir Putin mit seinem wiederaufgetauchten Verteidigungsminister Sergej Schoigu am Katzentisch vor Putins Schreibtisch irgendwo im überhöht prachtvollen, weiten, wohl stark gesicherten Kreml. Schoigu hatte Putin Bericht zu erstatten. Die Weltöffentlichkeit, insbesondere die eigene russische Bevölkerung sollte an diesem so wichtigen Tagesereignis teilnehmen, teilhaben können. Schoigu: „Die russische Armee hat die südostukrainische Hafenstadt Mariupol unter ihre Kontrolle gebracht“. Putin nimmt das erfreut zur Kenntnis. Schoigu: „Die verbliebenen ukrainischen Kampfeinheiten, ich vermute aufgrund von Informationen unseres Geheimdienstes über 2500 Soldaten, haben sich auf dem Industriegelände der Fabrik Asowstal verschanzt. Dazu kommen Hunderte von Zivilpersonen, die sich unter die Kämpfer gemischt haben, wohl zu deren und ihrem Schutz.“
Sofort wird eines klar: Nur einer befiehlt: Putin, der oberste Befehlshaber der Armee; es ist sein Krieg. Putin schroff: „Das Stahlwerk darf nicht gestürmt werden. Lass den bereits von der Armee-Leitung erteilten Befehl sofort zurücknehmen. Schoigu nickt. Putin: „Riegelt das ganze Gelände ab, keine Fliege darf hindurchkommen. Die Kämpfer in den Katakomben haben die Waffen vorbehaltlos niederzulegen. Garantiert ihnen das Leben.“ Und Putins Fazit: „Die Befreiung Mariupols ist doch ein toller Erfolg, ich gratuliere der Armee, die beteiligten Soldaten zeichne ich aus, sie sind alle Helden“. Schoigu nimmt die Gratulation und den Befehl entgegen, schweigt, verlässt den Raum. Putin ahmt in den TV-Auftritten zunehmend den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj nach, noch in Anzug und Krawatte und die rechte Hand immer am Pult.
Und die bange Frage: Wird Putin Wort halten, seine Armee vor Ort gehorchen, oder wird es zu einem Massaker wie in Srebrenica 1995 kommen, als mehr als 8000 Bosniaken, Männer zwischen 13 und 78 Jahren von Frauen und Kindern getrennt, hingerichtet wurden, beobachtet von niederländischen Truppen? Werden die Kämpfer In Mariupol beim Abzug von den zivilen Menschen getrennt, in Gefangenen-Lager in Russland gesteckt oder gar umgebracht? Oder ganz anders: Die russische Armee stürmt dennoch das Stahlwerk und vernichtet die letzte Bastion der ukrainischen Armee in Mariupol. Wie die grausame Einnahme von Mariupol, die Evakuierung ausgehen wird, ist ein Gradmesser, wie weit Putin zu gehen bereit ist. Und genau das ist die zentrale Frage: Greift Putin zur Atomkeule, wenn er sich in die Ecke gedrängt fühlt, wenn er am 9. Mai an die Befreiung von Hitler-Deutschland mit einer grossen Parade und Rede in Moskau gedenken will und keinen vollständigen Sieg verkünden kann? Wird er dann „kleine“, aber dennoch zerstörende, brutale, taktische Atomwaffen einsetzen?
Es ist die Schicksals-Frage, wie weit der Westen, die Nato, die EU zu gehen bereit sind, um dem entgegen zu steuern, ihn daran zu hindern. Eines hat Putin bereits erreicht. In Deutschland ist darüber ein heftiger Streit entstanden. Die CDU will alles an Waffen liefern, was die Ukraine fordert. Bundeskanzler Scholz zögert, will mit den USA alles absprechen, will keine Führungsrolle in Europa übernehmen. Noch 1989 waren François Mitterrand, der französische Präsident, und Margaret Thatcher, die britische Premierministerin, gegen die Wiedervereinigung Deutschlands, weil die Bundesrepublik zu stark in Europa werden könnte. Jetzt beklagen viele, vor allem auch die CDU-Opposition im eigenen Land, dass Bundeskanzler Olaf Scholz nicht zur Führungsrolle in Europa greift. Die wird Emmanuel Macron übernehmen, wenn er am Sonntag wieder ins Palais de l’Élysée einziehen wird.
Frankreich verfügt über Atomwaffen, die „force de frappe“. Unser Nachbarland ist waffentechnisch in Europa führend. Und Macron wird alles daran setzen, Europa nachhaltig zu vereinen, den Druck für eine europäische Armee verstärken, um ein Gegengewicht zur Expansionspolitik Putins zu schaffen. Ohne die USA, die nach wie vor bestimmend ist. Gerade jetzt in der Ukraine-Krise, in dem sie die Ukraine mit Milliarden unterstützt, am meisten Waffen liefert und so Putin zur Weissglut treibt und ihn darin bestärkt, dass sein Russland vom Westen bedroht und der von ihm brutal geführte Krieg gerechtfertigt sei. Nichts, aber auch gar nichts rechtfertigt einen Angriffskrieg auf ein unabhängiges Land, auch wenn es einmal zur ehemaligen Sowjetunion gehörte. Und dass der Westen die Ukraine von Putin befreit, ist ein Gebot der Stunde und für die Zukunft unerlässlich.