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Warten auf den richtigen Moment

Wann ist der richtige Zeitpunkt gekommen? Woran erkennt man ihn? Wohin kann eine Wende im Leben führen? Um diese schwierigen Fragen dreht sich das Stück «Momentum» der holländischen Dramatikerin Lot Vekemans. Corinne Thalmann hat das Drama am Berner Theater Matte als Schweizer Erstaufführung inszeniert.

Wer eine Schenkelklopf-Komödie erwartet, wird enttäuscht sein. «Momentum» ist vergleichsweise schwere Kost, ohne Lachsalven aus dem Zuschauerraum. Die Protagonistin und Protagonisten haben komplexe Charaktereigenschaften. Die Dialoge sind anspruchsvoll und nicht auf Anhieb zu begreifen. Erst wer die Geschichte als Ganzes versteht, den roten Faden erkennt, kommt auf den Geschmack. Vom Publikum wird volle Konzentration während knapp 90 Minuten erwartet. Pausen für eine geistige Erholung gibt es keine.

Beim Reflektieren erkennt man den Bezug zu eigenen Erlebnissen, zu persönlichen Alltagssituationen: Denn das Leben produziert immer wieder Augenblicke mit Entscheidungen, die wir bewusst oder unbewusst treffen und die den Lauf unseres Lebens nachhaltig beeinflussen. Kurze Momente, wohl überlegte Verdikte, vielleicht Zufälle oder Stimmungen führen zu Wendepunkten, lenken das Leben in neue Bahnen: Der Beispiele gibt es viele: Einschulung, Berufswahl, Partnerwahl, Verlobung, Hochzeit, Kinderplanung, Karrierewechsel, medizinische Behandlung, Pensionierung, Umzug ins Altersheim…. Jede und jeder von uns kennt sie, diese Abzweigungen und Weichenstellungen.

Die Handlung

Meinrad (Adrian Schmid) hat es geschafft, er steht an der Spitze von Staat und Partei. Doch seit geraumer Zeit sind seine Umfragewerte im Keller, ein Eklat jagt den nächsten. Unfähig zu regieren, geschweige denn Visionen zu entwickeln, tut er alles, um seinen labilen Zustand zu vertuschen. Meinrads Frau Eva (Monika Balsiger) hat ihr ganzes Leben für die Ziele ihres Mannes geopfert, sich untergeordnet, sogar auf Kinder verzichtet. Er ist der Politik müde, seine Karriere steht vor dem Aus, sie vor dem Nichts. Nun stellt sie sich die Frage, ob ihr Konzept, sich aufzuopfern, richtig war. Wofür lohnt es sich eigentlich zu kämpfen? Hinter jedem erfolgreichen Mann steht eine starke Frau.

Hinter jedem erfolgreichen Mann steht eine starke Frau. Besonders auch in der Krise.

Die Jubiläumsfeier seiner Partei scheint Meinrads letzte Chance, das Blatt zu wenden. Vielleicht sollte Ehefrau Eva die Rede an seiner Stelle halten? Diesen Vorschlag seines Beraters Dieter (Markus Maria Enggist) lehnt Meinrad strikt ab. Das lässt sich mit seinem Ego nicht vereinbaren. Und so stellt sich für Eva einmal mehr die Frage, ob ihr Lebenskonzept, sich an der Seite des vermeintlich starken Mannes aufzuopfern, irgendeinen Sinn ergibt. Kein Wunder, dass sie in dieser Situation von der Erinnerung an ihr ungeborenes Kind (Demian Morf) eingeholt wird. Dieses fordert Raum, wird zum Dialogpartner und beschleunigt den Zusammenbruch.

Doch wie könnte ein Neustart aussehen? Der junge Dichter (Fabian Netos-Claus), der sich selbst mit Pablo Neruda verwechselt, gibt der Hauptdarstellerin Kraft und Denkanstösse. Macht, Politik, Liebe, Schuld und Zweifel tanzen in Evas Gedanken mit- und gegeneinander, bis sie am Scheideweg steht – ein Moment, der alles verändern wird. Eva macht sich auf die Suche nach dem Sinn ihres Lebens.  «Momentum» nimmt uns und die Protagonisten mit hinter die Kulissen der Gesellschaft und gewährt uns einen schonungslosen, ganz intimen Blick auf die Menschen.

Die Interpretation

Es geht in diesem Fünfpersonen-Stück einmal nicht um Unterordnung oder die Thematik Haus, Herd und Kind. Laut Theaterleiter und Schauspieler Enggist wird vielmehr die schwierige Konstellation beleuchtet, in welche die Protagonisten verstrickt sind. Was bedeutet es für Ehefrau Eva, wenn der Regierungschef seine Karriere beenden muss? Wie stark war sein Einfluss auf ihr Leben? Was hat das alles mit Repräsentation, mit Status zu tun?

Während zwanzig Jahren lenkte der Politikberater Dieter (rechts) die Geschicke des Spitzenpolitikers und damit auch die der Ehefrau.

Corinne Thalmann ist überzeugt, dass viele Wendepunkte in unserem Leben mit einer Krise beginnen. So auch der Neuanfang von Eva. Deshalb sieht die Regisseurin das Spiel nicht primär als negatives Drama, als Scheitern einer Beziehung, einer Karriere, sondern als Ausdruck von kraftvollem Idealismus, der zu einem Ergebnis führt. Zwar befinden sich Spielende und Zuschauende phasenweise in einem dunklen Tunnel, doch am Schluss überwiegen Hoffnung und Energie. Ganz ohne Lachsalven aus dem Publikum.

Der Titel

Wie versteht Corinne Thalmann den sibyllinischen Titel des Stücks? Die Regisseurin erklärt ihn so: «Es geht um die Kraft des Momentes, des Augenblickes, eines nicht näher bestimmten Zeitpunktes. Es braucht nicht viele Momente, um Einfluss zu nehmen, dass sich etwas bewegt. Es braucht nur einen. Der Moment beschreibt eigentlich immer einen Wendepunkt. Sonst wäre es kein Moment. Sonst wäre dieser Zeitpunkt des Lebens, dieser Augenblick eines Tages, einer Stunde oder einer Woche unmerklich verstrichen und nicht zu definieren gewesen. Der Moment wird erst durch die Aktion sichtbar, erst durch seine Wirkung zu dem gemacht, was er namentlich ist…. Der Moment ist auch immer eine Erinnerung. Nie im Jetzt. Der Versuch, im Moment zu sein, ist schwierig, wenn der Moment per Definition eigentlich immer schon vorbei ist.»

Der junge Dichter (Mitte) versucht, der kollabierten Ehefrau Eva Kraft und Denkanstösse zu geben.

So wird die Berner Mundart-Inszenierung für das Publikum zu einem eigentlichen  «Momentum», um sich mit dem eigenen Leben, den Zielen und Wegen dahin, auseinanderzusetzen. Das Stück plädiert für Mut zum grundlegenden Wandel und geht unter die Haut.

Titelbild: Eva (Monika Balsiger) bricht zusammen, rappelt sich auf und macht sich auf die Suche nach dem Sinn ihres Lebens. Alle Fotos: Rolf Veraguth

«Momentum» von Lot Vekemans.
Regie und Dialektfassung: Corinne Thalmann

Weitere Aufführungen bis 20.05.2022

Theater Matte

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