Ich konnte mich ein Leben lang vor Pessimismus bewahren. Der Krieg war vorbei, als ich begann zu verstehen, dass wir im Leben eine Bestimmung haben: Lernen, Arbeiten und Sorge tragen zu dem, was uns geschenkt worden war. Die Jahre der frühen Kindheit waren glückliche Jahre. Dass ein Mann schreiende Reden hielt, sagte mir nichts. Als ich beobachtete, wie ein amerikanischer Bomber tief über den Hügel in unserer Nähe flog, von dem es abends in den Nachrichten hiess, das Flugzeug habe im Zugersee notlanden müssen, war dies für mich das sichtbarste Zeichen, dass der Krieg vorbei war. Wir mussten die Fenster abends nicht mehr verdunkeln. Am Familientisch änderte sich der Ton. Er wurde fröhlicher. Die gespannte Aufmerksamkeit, um das Geschehen in unserem nördlichen Nachbarland war vorbei. Es begann eine Zeit, in der es alltäglich, behaglich und in einer gewöhnlichen Selbstverständlichkeit gut war.
Die Zeit, in der man sich behaglich einzurichten begann, dauerte, bis im grossen Wirtschaftswunder die Erfolge zu spriessen begannen. Man sprach von Fortschritt. Der VW-Käfer war das Symbol des Wandels und der Befreiung. Immer Neues wurde erfunden. Niemand lehnte den Fortschritt ab. Das Verlangen nach ihm wurde progressiv. Der Glaube an einen stetigen Fortschritt wuchs, wurde masslos, so sehr, dass das Verlangen nach Fortschritt den tatsächlichen Fortschritt übertraf und sich Unzufriedenheit breitmachte, wenn sich fortschrittliche Lösungen nicht unmittelbar finden liessen. Auch die sozialen Ansprüche wuchsen und schienen durch Fortschritt lösbar zu sein. Noch immer glauben weite Kreise, alles was auf uns zukomme, sei durch Fortschritt zu bewältigen. Mittlerweile ist klar geworden, dass die Mittel des Fortschritts ebenso Mittel des Rückschritts sind.
Nun leben wir in einer Welt, in der sich zahlreiche Denkformen überlagern. Sie machen das Leben schwieriger. Die negativen Botschaften nehmen zu. Die Wissenschaft spricht von den drastischen Folgen des Klimawandels, des Artensterbens, der Übernutzung der Erde, der Belastung der Meere mit Müll, dem fehlenden Wasser in weiten Teilen der Erde. Nicht genug, mit dem was der Mensch der Erde antut, es brechen Kriege aus, die unsägliches Leid bedeuten. Ein gewaltiger Streit der Meinungen zwischen den politischen Systemen ist entbrannt. Neben dem realen Krieg ist auch ein virtueller Krieg ausgebrochen, der nicht mehr auf Tatsachen und Wahrheiten basiert. Unzählige Verschwörungstheorien, Fake News schwirren durch den Äther und entfernen sich von der faktischen Welt.
Was soll man noch für wahr halten? Das Mass von Unbehaglichkeit nimmt unter diesen Umständen zu. Orientierungslosigkeit, Ortlosigkeit und Identitätskrisen entstehen. Das Misstrauen gegenüber den politischen und den wissenschaftlichen Autoritäten überschreitet jegliches Mass. Die Skepsis tilgt den Glauben an das Gute im Menschen. Der Mensch ist zu allem fähig geworden, auch als Krieger. Nietzsche wird zitiert, der einmal gesagt hatte: «Der Krieg führt den Menschen zu seiner Natur zurück». Was dies heisst, demonstriert der unsägliche Krieg in der Ukraine und der sie begleitende Cyberkrieg, der jede Achtung vor der Wahrheit verleugnet und den Boden für das Böse bereitet. Daraus folgt zwangsläufig, dass der Alltag unbehaglich oder gar unerträglich wird.
Wie nie sonst müsste der Mensch erkennen, dass das Gewöhnliche, das Alltägliche und das Behagliche von grösster Bedeutung ist und mehr Beachtung verdienen würde. Die heutige Informationsgesellschaft fördert dagegen das Streben nach Aussergewöhnlichkeit und überlässt ihm viel Raum. Der moderne Mensch wird zum Sklaven des lauten Getöses. Er begnügt sich nicht mehr mit dem Gewöhnlichen und dem Üblichen. Das Aussergewöhnliche besetzt die Freizeit und das Leben. Wir nehmen fast zwangsläufig Abschied von der Behaglichkeit und lassen uns von der Banalität des Lauten verführen. Gewöhnlich, alltäglich und behaglich leben ist in einer Mediengesellschaft, die das Spektakel sucht, nicht cool. Wie sollte ich da nicht pessimistisch werden und der früheren Behaglichkeit nachtrauern?
Ihre Gedanken zum Zustand der westlichen Gesellschaft und darüber hinaus sind auch meine Gedanken. Jeden Tag in den letzten Wochen und Monaten nistete sich das Negative und deshalb auch das Bedrückende in meinen Gedanken ein. Ich litt und es ging mir nicht gut. Ich zog mich zurück, auch aus den sozialen Medien im Internet.
Tagtäglich die Medienberichte über Krieg, über Leid, Zerstörung und Tod, will ich nicht mehr ertragen, es macht mich krank. Ich informiere mich einmal die Woche bei seriösen Medien, genügt mir. Jetzt schreibe ich wieder Tagebuch und kann so alles, was mir auf der Seele brennt, mit meinen Worten niederschreiben, Sachverhalte relativieren und dadurch loslassen.
Zen Buddhismus (Buch «Zen im Alltag» von Charlotte Joko Beck) half mir in früheren schweren Zeiten, nun habe ich wieder angefangen zu meditieren und finde so, wie ich hoffe, meine Mitte und Gelassenheit wieder. Alte, lange nicht mehr gelesene Bücher kommen mir wieder in die Hände, z.B. «Der vernünftige Mensch» von Dennis Gabor von 1972. Viele seiner Themen sind auch heute aktuell. Oder «Trost der Philosophie» von Alain de Botton von 2001, der uns eine Gebrauchsanweisung zur Bewältigung von Krisen an die Hand gibt.
Als Feministin habe ich natürlich auch die vergangenen Jahrhunderte aus weiblicher Sicht Revue passieren lassen. Auch hierzu gibt es Forschung und Bücher von Frauen zum Thema Krieg, Gewalt, Unterdrückung, Z.B die Bücher von Heide Göttner-Abendroth. Nach der Erkenntnis, dass es vor mehr als 2000 Jahren ein Matriarchat gab, das verbunden mit der Natur war, ein Geben und Nehmen, wurde plötzlich vom Patriarchat verdrängt..
Seit dieser Zeit und bis heute gilt das männliche Prinzip bei allem. Das vorherrschende männliche Denken und Handeln hat uns dahin gebracht, wo wir heute sind. Bei uns gab es schon Diskussionen, wie unsere Welt aussehen würde, wenn die Frauen, die schliesslich die Hälte der Weltbevölkerung ausmachem, gleichwertig wie die Männer sich hätten einbringen können in alle Belange des täglichen Lebens. Wir werden es nie erfahren. Für mich ist klar, die Männer sind in der Pflicht.
Und wenn ich doch einmal Putin, Selenskyj, Biden oder unsere Schweizer PolitikerInnen antreffen würde, ich würde Sie fragen: Was ist der Sinn des menschlichen Lebens? Was müssen wir tun, damit wir alle in Friede und in Würde auf unserem Heimatplaneten leben können.
Es gab noch kein Jahrhundert ohne Krieg. Macht und Profilierungssucht, Selbstüberschätzung usw… das alles sind die Motive und Antrieb zu solchen Taten.
und alle diese Taten wiederholen sich von Zeit zu Zeit.
Die Globalisierung und die Digitalisierung helfen die Prozesse zu beschleunigen.
Die Absicht der Globalisierung war eine Nivellierung – die grossen Gefälle zwischen arm und reich auszugleichen – passiert ist das Gegenteil davon.
…»Die Absicht der Globalisierung war eine Nivellierung – die grossen Gefälle zwischen arm und reich auszugleichen – passiert ist das Gegenteil davon» – Falsch. Genau das Gegenteil ihrer Aussage ist passiert! Seit 1990, dem Ende des «real exstierenden Sozialismus» sind mehr als 1 Milliarde Menschen aus Hunger und totaler Armut befreit worden! 3,5 Mrd. mehr Menschen haben nun Teilhabe an steigendem Wohlstand, Arbeit und Einkommen. Die Löhne der BRIC Länder (Brasilien, Russland, Inden und China) haben sich in 25 Jahren verzehnfacht (Brasilien) bis verzwanzigfacht (China). Das Problem der Digitalisierung ist die Informationsflut und damit die Zunahme der Fake News, Verschwörungstheorien, politischer ideologischer Lügenpropaganda, leider auch von NGO’s. Die allermeisten leben nun in ihren Bubbles und glauben nur noch das was in ihrem Umfeld erzählt und als «Wahrheit» kolportiert wird. Die Fakten liegen meist anders. Und genau um die Fakten und die Wahrheit sollten sich die Medien bemühen und tun das leider heute immer mehr auch nicht mehr.
https://www.weforum.org/agenda/2015/07/how-much-global-poverty-fallen-past-25-years/
Schade, lieber Andreas Iten, dass auch Sie als geschätzter Liberaler diesen medialen Mainstream vom «modernen Menschen als Sklaven des lauten Getöses» etc. noch verstärken. Wir sind doch alle derart informiert via auch kritischen Infokanälen, selbstsicher und -bewusst, gut vernetzt, so dass ich (Jg. 1944) in meiner recht weitläufigen Umgebung von Seniorinnen und Senioren (u.a. als Wanderleiter und Beistand) durchaus eine erfreuliche Mehrheit von Frauen und Männern erlebe, die «das Gewöhnliche, das Alltägliche und das Behagliche» (AI) schätzen und geniessen wollen. Also, lieber Andreas, etwas mehr Zuversicht und positive Ausstrahlung in Ihre Umgebung dient uns allen und unserer Lebensqualität.