StartseiteMagazinKolumnenMigros: zurück an den Start

Migros: zurück an den Start

Es ist fast wie beim Monopoly. Nur: Es ist kein virtuelles Spiel um Macht, Einfluss und Besitz, sondern ein verbrieftes Recht auf Mitbestimmung. Rund 2,3 Millionen Genossenschafterinnen und Genossenschafter haben bis am 4. Juni 2022 das Recht zu bestimmen, ob die regionalen Genossenschaften des Migros Genossenschaft-Bundes alkoholische Getränke in ihren Regalen aufnehmen und verkaufen dürfen. Gottlieb Duttweiler (15.08.1888 – 8.Juni 1962), der Migros-Gründer, würde sich freuen, aber auch verdammt ärgern, wenn er den Urnengang noch erleben würde. Freuen, weil seine Kunden, seine Genossenschafterinnen und Genossenschafter ein Recht wahrnehmen können, das er in die Statuten seiner Stiftung eingefügt hat: Mitbestimmung in einem der grössten Unternehmen der Schweiz mit heute beinahe 100’000 Mitarbeitenden. Verdammt ärgern, weil es eigentlich sein letzter Markstein sein wird, den seine Nachfolger so gerne über Bord werfen würden, wenn sie nicht an eine Abstimmung gebunden wären. Selbst der Stiftungsrat seiner «Adele-Duttweiler-Stiftung», mit der er als Gründer und seine Frau sicherstellen wollten, dass die Migros auch in Zukunft in ihrem Sinne weiterlebt, ist eingeknickt; sie beschloss Stimmfreigabe und fürchtet «einen Flickenteppich», weil die regionalen Genossenschaften unterschiedlich abstimmen könnten.

Nicht verwunderlich, wird die Stiftung doch mit David Bossart aktuell von einem Präsidenten geführt, der mehr als wissenschaftlicher Trendforscher statt als Treuhänder der Philosophie Duttweilers, der Idee des «Sozialen Kapitals» aufgefallen ist und während 22 Jahren als Leiter des Gottlieb Duttweiler-Institutes GDI im Solde der Migros stand und der verbrieften Form der Unabhängigkeit genau genommen nicht ganz entspricht. Aber nicht nur er zeigt keine Flagge, sondern auch Fabrice Zumbrunnen, der oberste Chef des Migros Genossenschaft-Bundes. Auch er hat nicht den Mut, öffentlich Farbe zu bekennen. Allein daran wird mehr als deutlich, wie fundamental sich die aktuellen Chefs von ihrem Migros-Gründer Gottlieb Duttweiler unterscheiden, der alles andere als zurückhaltend war.

Das legendäre Beispiel dazu: Duttweiler sprach 1948 im Nationalrat in aufrüttelnden Worten davon, dass es bald wieder Krieg geben könnte und dass es deshalb Zeit sei, «Lebensmittelvorräte für das Land anzusammeln, notfalls in Schulen und Kirchen«. Aber die Nationalräte zeigten kein Interesse. Im Gegenteil. Ihnen war der streitbare Migros-Gründer als Unabhängiger schon immer etwas suspekt; er hätte sich nicht in die gängigen Gepflogenheiten der eidgenössischen Politik eingegliedert, meinten sie. Der damals 66jährige war deshalb so erzürnt, dass er aus dem Saal stürmte, sich zwei Steine organisierte und diese in die Fenster des Nationalrats-Saals warf. Schaden: gute 170 Franken. Sein Motiv dazu fasste er damals einem Journalisten gegenüber folgendermassen zusammen: «Hat denn Wilhelm Tell einen Auftrag gehabt? Das hat es doch in der Schweiz schon immer gegeben: den inneren Auftrag!»

Dieser innere Auftrag, diese beseelte Mission, ist in der Nach-Duttweiler-Zeit in der Migros immer mehr auf der Strecke geblieben. Der Schriftzug «Das Soziale Kapital» am Gebäude gegenüber dem heutigen Hochhaus ist schon längst verschwunden. «Die Tat», die renommierte Migros nahe Zeitung (1935 bis 1977) wurde aufgegeben, durch eine Boulevard-Zeitung ersetzt. Deren Chefredaktor, Roger Schawinski, wurde wegen seines «radikalen Kurses» schon nach 18 Monaten entlassen, durch Karl Vögeli vom Blick ersetzt; er hatte einen gemässigteren Kurs zu garantieren. Die Redaktion rebellierte, streikte gar. Pierre Arnold, der damalige Migros-Chef, zog die Reissleine.

Zusehends verlor die Migros auch das Interesse an der Dutti-Partei, am Landesring der Unabhängigen LdU. An ihrer Partei, die bei den Nationalratswahlen im Jahr 1967 mit 9,05 Prozent der Stimmen und sechzehn Abgeordneten im Nationalrat sowie einem im Ständerat ihren Höhepunkt erlebt hatte und zur stärksten Oppositionspartei wurde. In den Folgejahren dividierte sich die Partei immer mehr auseinander, in einen liberalen und einen grünen Flügel, in EU-Enthusiasten und EU-Skeptiker. Das konnte nicht gut gehen. Als 1999 mit Roland Wiederkehr nur noch ein LdU-Politiker in den Nationalrat gewählt wurde, zog ich die Reissleine und beantragte dem Vorstand und dieser Partei am letzten Partei-Tag, die Partei aufzulösen.

Und den traurigsten Moment erlebte ich danach, als wir das Archiv der Partei der Migros übergeben wollten. Im Gegensatz zum Schweizerischen Bundesarchiv zeigte die Migros-Spitze um Peter Everts, den damaligen Präsidenten der Generaldirektion, kein Interesse. Weil das Archiv alles enthält, was das Wirken Duttweilers und das seiner Partei dokumentiert (Filme, Tonträger von Duttweiler, Bilder, Redemanuskripte, Interviews, seine Artikel «Zeitung in der Zeitung», Protokolle, etc.) blieb ich hartnäckig, es gelang, auf tieferer Stufe, Leute von der Bedeutung des Archivs zu überzeugen. Die Kosten der Triage und der Aufbereitung hatten wir mit LdU-Geldern zu bezahlen.

Zugegeben: Ein Nein der Genossenschafter zur beantragten Aufhebung des Alkohol-Verkaufs-Verbots wird unternehmerisch die Migros gegenüber den Konkurrenten Coop, Aldi, Lidl weiterhin in diesem Bereich benachteiligen, das Alkohol-Problem nicht lösen; Alkoholiker, Gefährdete, auch Jugendliche nicht daran hindern, zu den Genussmitteln zu kommen. Die Gefahr eines Flickenteppichs besteht: Alkohol in den Läden der Westschweiz, keine in denen der Deutschschweiz. Es wäre aber ein erster Schritt zurück zu den Alleinstellungs-Merkmalen der Migros, zu den Wurzeln:

  • Für ein stärkeres Engagement für das «Soziale Kapital» nach Duttweilers Definition: „Die Migros setzt sich ein für die Schwachen, und die Starken, welche ihre Macht missbrauchen, bekämpft sie»
  • Für ein stärkeres Engagement in der Politik: Sozialliberale, grüne Bewegungen formieren zurzeit immer mehr, vernetzen sich und füllen die Lücke mehr als die, die der LdU hinterlassen hat.
  • Für ein stärkeres Engagement in der Kultur. Das Migros Kulturprozent war gedacht, dass alle an den Kulturangeboten teilhaben können. Auch die, welche die hohen Preise beispielsweise im Opernhaus, im Schauspielhaus nicht bezahlen können. Das Angebot wäre verstärkt zu beleben.
  • Für ein stärkeres Engagement in der Medienlandschaft. Damit die Stimme des «Sozialen Kapitals» Gehör findet.

Spannend wird sein, wie viele sich an der Abstimmung beteiligen werden. Die Höhe der Beteiligung wird Aufschluss darüber geben, wie stark sich die Genossenschafterinnen und Genossenschafter mit der Migros noch verbunden sind, sich gar für sie mitverantwortlich fühlen.

Rabatt über Seniorweb

Beim Kauf einer Limmex-Notruf-Uhr erhalten Sie CHF 100.—Rabatt.

Verlangen Sie unter info@seniorweb.ch einen Gutschein Code. Diesen können Sie im Limmex-Online-Shop einlösen.

Beliebte Artikel

Mitgliedschaften für Leser:innen

  • 20% Ermässigung auf Kurse im Lernzentrum und Online-Kurse
  • Reduzierter Preis beim Kauf einer Limmex Notfall-Uhr
  • Vorzugspreis für einen «Freedreams-Hotelgutschein»
  • Zugang zu Projekten über unsere Partner
  • Massgeschneiderte Partnerangebote
  • Buchung von Ferien im Baudenkmal, Rabatt von CHF 50 .-

7 Kommentare

  1. Sorry, diese Träumereien von tempi passati der Migros und der Wunsch nach Rückkehr zu den Roots sind nur peinlich und total realitätsfremd. 2007 hat die Migros Denner übernommen. Schon lange die Nr. 2 im Verkauf von Alkoholika nach Coop mit rd. 33 Mio verkauften Litern Bier und Wein und um die 500 Millionen Umsatz jährlich. Das Getue der Migros Genossenschafter um die Alkoholfreiheit der Migros ist reine Heuchelei, solange die Migros über ihre Denner Tochter massiv an Alkoholika mitverdient! Entweder verabschiedet sich die Migros Gruppe total vom Verkauf von Alkoholika oder sie verkauft sie auch in ihren Migros Läden und nicht über die Hintertür bei Denner.

    Und die Nostalgie des Konkursverwalters des LdU ist unübersehbar. Diese Zeiten sind längst vorbei, wo die Migros meinte, alle Fasern unseres Lebens mitbestimmen zu können. Sie soll sich gefälligst aus der Politik raushalten und sich viel mehr bemühen, den Kunden ein marktwirtschaftlich reichhaltiges und ausgewogenes Angebot zu sehr konkurrenzfähigen Preisen abzubieten. Auch das schafft die Migros längst nicht mehr mit ihrer veralteten, aus kollektivistischen Zeiten stammenden Eigenmarken Strategie, die teilweise an DDR Zeiten erinnert. Konkurrenz und Markt sind gut für die Konsumenten. Die Migros wird gegenüber der viferen, diversifizierteren, kundennäheren Konkurrenz weiter zurückfallen und solange sie meint Konsumenten bevormunden zu müssen, wird sich das auch nicht ändern.

  2. Da bin ich gar nicht gleicher Meinung wie A. Herren. Ich kann nicht verstehen, dass er von Träumerei, Heuchelei etc. spricht. Die Argumente von Anton Schaller überzeugen mich viel mehr. Ich sehe ausser dem finaziellen Gewinn keinen Grund für die Änderung des bisherigen Alkohol-Verbots in den Migros-Läden. Ich bin aber absolut kein Wein-Verächter. Mein «Nein» habe ich aber mit Überzeugung schon in die Migros-Urne geworfen.

    • Wenn Sie den Artikel von Anton Schaller ganz und richtig lesen, geht es ihm um viel mehr als nur um ein Alkohol Referendum der Migros Genossenschafter. Er wünscht sich die alten Zeiten der Migros mit der Tat, dem LdU und dem missionarischen Eifer Duttweilers zurück. Duttweiler und seine geistige Treuhänderin Adele würden sehr wohl verstehen, was mit Heuchelei gemeint ist, wenn die Migros über ihre Denner und Migrolino Töchter kräftig am Verkauf von Alkoholika mitverdient (Nr. 2 in der Schweiz). Und genauso am Verkauf von Zigaretten und Tabakwaren über diese Kanäle. Rauchen soll ja sehr gesund sein… Dutti als notorischer Stumpenraucher…ein Vorbild gell… das nennt man Doppelmoral. Beides sind legale Substanzen und der Verkauf an u18 verboten. Brauchen wir diese einseitige Bevormundung der Migros heute noch?

      • Nein, das ist keine Bevormundung seitens der Migros, das ist ein Angebot. Eine Hinterlassenschaft Gottlieb Duttweilers und, wie man heute im Marketing sagt: ein unique selling point, USP). Etwas was die Migros einzigartig macht und von den anderen abhebt. Also durchaus positiv und marktfördernd.

        Dass «Dutti» Stumpen rauchte und gerne Wein trank, so what. Wichtig ist doch für was er sich mit all seinen Talenten grundsätzlich eingesetzt hat: u.a. für günstigere Lebensmittel, für die Konsumenten, in einer Zeit, als die Kartelle den Warenfluss beherrschten und die Preise diktierten. Was sollen diese unangebrachten Bemerkungen: Dutti ein Vorbild? Rauchen soll ja sehr gesund sein, gell, und Doppelmoral, ätschipätsch?

        Man könnte auf den Gedanken kommen, dass das zwischen Ihnen und den Kolumnen und Themen von Anton Schaller, etwas Persönliches ist, dass Sie sich regelmässig nur abwertend an seinen Texten abarbeiten müssen. Geht es Ihnen nur ums Rechthaben? Hab ich recht oder hab ich recht?

        • ihre Worte: «Demokratie heisst doch u.a. auch, dass man andere Meinungen und Ansichten respektiert, auch wenn man diese nicht teilt. Ein selbstbewusster Mensch kann doch Kritik auch mal stehen lassen, ohne aggressive Retourkutsche». – Also lassen Sie’s sein andere belehren und zurechtweisen zu wollen, sonst machen Sie sich mit ihren eigenen Worten noch mehr unglaubwürdig. Ich lasse ihre Posts auch stehen, obschon ich sie schon lange nicht mehr lese.

  3. Dr. med. HU KULL überzeugt mich voll und ganz. Ich hoffe immer noch, dass das Alkoholverkaufsverbot bestehen bleibt. Und ich bewundere Herrn Bolliger für seinen Einsatz gegen den Alkoholverkauf !

  4. Ich bin mit der Migros gross geworden, erlebte noch die praktischen und einzigartigen Migrosbusse, die einmal die Woche in die Umgebung der Städte kamen, und alles mit sich führten, was damals in einem bescheidenen Haushalt gebraucht wurde, ein kurzer Schwatz und äs Täfeli für die Chline, inbegriffen.

    Bei uns zu Hause war „Dutti“ und seine Zeitung „Wir Brückenbauer“ immer präsent. Er sorgte mit seinen aufmüpfigen Ideen und seinem Mut bei meinen Eltern für Bewunderung. Man war ihm dankbar, dass er sich trotz vieler Widerstände und herablassender Missgunst, mit seiner LdU gegen die etablierten politischen Parteien und ihren Mauschelbeziehungen zu den herrschenden Kartellen, einsetzte für günstige Lebensmittel, ohne die unnötigen Profite des Zwischenhandels. Dabei verlor er in seinem talentierten, weltweiten Handeln, bis zu seinem Tod, nie die einfachen Leute und ihre Anliegen aus den Augen. Übrigens, die Biographie über Gottlieb Duttweiler, ist ein soziales Zeitdokument und lesenswert. Wikipedia stellt zudem eine chronologische, sehr detailreiche Übersicht seines Werdegangs zur Verfügung.

    Die Uhren in der Führungsetage der Migros, ticken leider schon lange nicht mehr nach den verbrieften Hinterlassenschaften von Gründer Gottlieb Duttweiler. Das letzte Trauerspiel haben sich die Verantwortlichen des 50 Mio. teuren Einkaufszentrums im Breitenrain in Bern geleistet. Man(n) wollte die Angestellten der alten Filiale nicht in den neuen Vorzeigebau übernehmen. Es gab, wie schon seit Vorliegen des Bauprojekts, grossen Widerstand aus der Bevölkerung. Kritik gab es auch gegen die überteuerten Mieten der 50 Neubauwohnungen. Bestimmt auch nicht im Sinne von Gottlieb Duttweiler.

    Schade, dass die heutigen Strippenzieher der Migros, das Werk und, das für unsere schwierige Zeit so wichtige Gedankengut des Gründers, nicht in die Neuzeit überführen konnten/wollten. So ist es bei der kommenden Abstimmung um den Alkoholverkauf eigentlich „Hans was Heiri“, was dabei herauskommt. «Das soziale Kapital» des Visionärs Gottlieb Duttweiler, hat längst verloren gegenüber dem ausufernden und unsozialen Kapitalismus der heutigen Zeit.

    Meiner Meinung nach braucht es jedoch nicht noch eine weitere grosse Ladenkette in der Schweiz, die Alkohol verkauft, davon gibt es schon genug. Als langjährige Genossenschafterin stimme ich deshalb gegen einen Verkauf von Alkohol in Migrosfilialen.

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein