Manchmal vermag die NZZ gar zu überraschen. Stosse ich doch am letzten Freitag in der Zeitung von der Falkenstrasse auf einen „Tribüne“-Beitrag, der es in sich hat: „Pensioniert mit 50 Jahren?“. Weil der Beitrag mit einem Fragezeichen versehen ist, wird schnell klar, dass der Titel zwar ernst gemeint ist, sich der Inhalt des Beitrages aber nicht als ultimative Forderung versteht, sondern als innovative Idee eines renommierten Professors. Ausgedacht hat sich die Idee der Basler Ökonom Bruno S. Frey (81)* nicht allein, sondern im Gespräch mit dem weit jüngeren Basler Regierungsrat und Erziehungsdirektor Dr. Conradin Cramer (43), Vertreter der Liberal-Demokratischen Partei.
Das zu erwartende Lebensalter habe sich stark erhöht, so dass immer wieder gefordert werde, das allgemeine Pensionsalter von 65 auf 70 oder gar 75 Jahre zu erhöhen. Und nun Frey dazu, beinahe provokativ: „Das Pensionsalter soll nicht erhöht, sondern vielmehr gesenkt werden, weil wir grosse Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft erleben werden“. Das Berufsleben werde sich ganz anders gestalten als bisher. Die Konsequenz: „Das ganze Arbeitsleben hindurch den gleichen Beruf auszuüben, wird die Ausnahme sein“.
Nach Bruno Frey geht das schematisch gedacht so.: Bis 25 Jahre ist man künftig in der Ausbildung. Die nächsten 25 Jahre arbeitet man im angestammten Beruf. Mit 50 geht man in Pension, schafft Platz für die nachrückende Generation, bildet sich weiter, ist möglich dank der Pension, steigt ein in einen neuen Beruf, bringt seine Erfahrung ein, äufnet seine Pensionskasse wieder und übt eine neue Tätigkeit aus bis zu einem Rücktritt zu einem selbstgewählten Alter. Ein oder sogar mehrere Berufswechsel im Laufe der nächsten Arbeitsjahre werden somit normal sein, meint Frey. Ein «Pensionsalter» von 50 Lebensjahren könnte den Beschäftigten diese Dynamisierung deutlich machen und aufzeigen, dass ein Berufswechsel angemessen ist. Wer mit einer geringen Pension zufrieden sei, könne auch mit 50 Jahren seine Freizeit geniessen. Manche würden sich verstärkt ihrem Hobby widmen, andere gemeinnützige Freiwilligenarbeit leisten.
Sofort stellt sich natürlich die Frage, sind das einfach utopische Gedankenspiele, völlig realitätsfremd, eine sogenannte „Kopfgeburt“ eines emeritierten Professors, ausgeheckt mit einem jüngeren, bürgerlichen Politiker?
Ich habe mich in meinem Umfeld umgesehen und bin spontan auf drei Beispiele gestossen, die das im Grundsatz bereits vollzogen oder vollziehen. Ein 50-jähriger Mathematiker, der nach seinem Studium als Versicherungsmathematiker sehr erfolgreich bis zum Finanzchef im angestammten Beruf bei einer US-Versicherung tätig war, sich mit 50 zurückzog, nach einer Pause ein Beratungsmandat annahm und jetzt einen neuen Konzern aufbaut. Eine Frau, die nach der Ausbildung in den Journalismus einstig, mit 40 als Medienverantwortliche in eine öffentlich-rechtliche Institution wechselte und nun mit 50 ausstieg, sich weiterbildet und künftig als Personalcoach arbeiten wird. Oder ein jetzt beinahe 80-jähriger Mann, der nach der Ausbildung in der Chemie und im Journalismus während 27 Jahren im angestammten Beruf tätig war, mit 50 eine kleine Firma gründete, als Dozent und Projektleiter ins Bildungswesen wechselte und erst mit 75 Jahre in Pension ging. Mit etwas Recherchen wären sicher weitere unzählige Beispiele zu finden. Wie Frey schreibt, hat sein Vorschlag auch einige Nachteile: eine geringere Pension beispielsweise. Und zwei Fragen treiben ihn um: Finden Personen im Alter 50 wieder eine passende Stelle? Lässt sich das System auch im Niedriglohnbereich anwenden? Das sei abzuklären, meint er.
Und tatsächlich: Es gibt viele Fragen, die zu klären sind, insbesondere im Bereich der Vorsorge, bei der ersten und der zweiten Säule. Dazu passen würden eine Stärkung der ersten Säule und eine Liberalisierung der zweiten Säule. Die zweite Säule wäre weit stärker in die Verantwortung des Einzelnen zu übertragen, so dass er sie seinem Berufsweg anpassen kann.
Frey fragt sich selbst: „Wie stehen die Chancen, eine Senkung des möglichen Beginns der Altersrente politisch durchzusetzen?» Und er gibt die Antwort gleich selber: „In der Schweiz haben neue Ideen politisch immer einen schweren Stand – insbesondere bei Volksabstimmungen. Deshalb dürfte es einige Zeit dauern, bis eine solche Neuerung ernsthaft erörtert und umgesetzt werden könnte.“ Auch mein Vorschlag, die 1. Säule zu sozialisieren und auszubauen und die 2. Säule zu liberalisieren, braucht seine Zeit.
Im September wird über die Reform der ersten Säule abgestimmt, im nächsten Jahr wird wohl auch die Reform der 2. Säule zur Abstimmung gelangen. Beide Vorlagen stossen schon jetzt auf eine starke Gegnerschaft. In diesem Umfeld innovative Ideen zu lancieren, sie in die Diskussion einzubringen, dient der demokratischen Auseinandersetzung. Die vorliegenden, auch sehr umstrittenen Reformen, wie die der AHV, dîe der zweiten Säule, der beruflichen Vorsorge, sind eines nicht: alternativlos.
*Bruno S. Frey ist Ständiger Gastprofessor an der Universität Basel und Forschungsdirektor beim Center for Research in Economics, Management and the Arts (Crema ), Zürich.
Bruno S. Frey bleibt sich selber treu. Ich habe ihn Ende 60’iger, Anfangs 70’iger Jahre an der Uni Basel erlebt als Assistenten in Ökonomie und Sozialwissenschaften. Er dachte schon damals «out of the box» (und kleidete sich auch entsprechend!). Wir brauchen dringend mehr solche Querdenker, besonders in der Ökonomie, die darüber nachdenken, was «Wohlstand» und «Glück» wirklich bedeutet und Lösungen entwickeln, wie wir diesem Wohlstand etwas näher kommen können.
Luc Bigler (78)
Das Gedankenspiel der drei Akademiker ist nicht neu. Wir wissen seit längerem, dass in Zukunft der Erstberuf nicht ein ganzes Leben praktiziert wird. Spätestens jedoch mit der Debatte um ein Grundeinkommen für alle und die daraus resultierende persönliche Freiheit, lässt schon den einen oder die andere träumen vom Ausstieg aus dem Hamsterrad. Ihre drei Beispiele, die ein neues Berufs- und Lebensmodell umsetzen konnten, sind m.E. jedoch Ausnahmefälle; sie bleiben den gutverdienenden und privilegierten unserer Gesellschaft vorbehalten.
Die mögliche Umsetzung als Modell, wie von den Herren skizziert wird, mit 50 Jahren in Pension zu gehen, den «Jüngeren» Platz zu machen, eine neue Ausbildung sich anzueignen, um dann einen beruflichen Neuanfang, mit neuen Rentenbeiträgen für ein «sorgloses» Rentenalter zu sorgen, ist für die Mehrheit der Berufstätigen nicht nur völlig illusorisch, sondern grenzt schon fast an Hohn, wenn man bedenkt, wie viel heute eine volle AHV-Rente pro Monat, im Minimum Fr. 1’195.- im Maximum Fr. 2’390.-, an eine Einzelperson ausbezahlt wird. Man(n) rechne sich aus, was für eine Rente bei einer Kürzung um 15 resp. 12 Jahre herauskommt. Dasselbe gilt natürlich auch für die BVG-Rente.
An die Frauen wurde in diesem Männerkreis überhaupt nicht gedacht. Die Frauen haben schon heute durchschnittlich ein Drittel weniger AHV-Rente im Vergleich zu den Männern. Viele Frauen haben wegen Geburt(en) und Gratisarbeit für die Familie, grosse Einbrüche in ihren AHV- und BVG-Beiträgen, wenn sie denn überhaupt welche leisten konnten. Auch für Männer mit tiefen bis mittleren Einkommen kommt wohl eine frühzeitige Pensionierung mit einer Schmälerung der Renten nicht infrage.
Leider ist die Schweizer Bevölkerung im Umsetzen von Neuerungen vielerorts noch im 19. Jahrhundert, trotz Gleichstellungsgesetz. Haben wir doch das Frauenstimm- und Wahlrecht, als zweitletzte Nation überhaupt, gerade mal seit 50 Jahren gesetzlich verankert.
Meine Hoffnung, dass sich dieses Ungleichgewicht eines Tages zum Besseren verändert, liegt natürlich beim Kampfgeist der Frauen und auch bei den neuen, anders denkenden und anders fühlenden Männern, im Sinne einer für alle funktionierenden modernen, demokratischen und gerechteren Gesellschaft.
Ich hoffe, dass diese Überlegungen bei der Abstimmung über eine ev. Erhöhung des Frauenrentenalters berücksichtigt werden. Solange die Frauen bei den Löhnen, den beruflichen Anstellungsbedingungen und Aufstiegschancen, bei dem selbstverständlichen Einbezug der Väter in die Familien- und Hausarbeit (vielleicht bekommt sie dann plötzlich auch einen nominellen Wert?), nicht gleich behandelt werden wie die Männer, leistet eine berufliche Arbeitsverlängerung um zwei Jahre bis zum Rentenbezug einer weiteren Verschlechterung und Ungleichbehandlung der aktuellen Frauenrenten Vorschub.
Herr Frey spricht mir aus dem Herzen. Ich spiele seit längerem mit dem Gedanken mich ehrenamtlich zu angagieren. Im Alltag bleibt hierfür leider keine Zeit und finanziell kann ich es mir nicht leisten.
Wäre ich mit 50 pensioniert und versorgt, könnte ich in sozialen Einrichtungen sicher mehr bewirken!
47 Jahre / Beamtin beim Land BW