Es sollte ein Stück über die Corona-Pandemie und die damit verbundene Angst der Menschen werden. Herausgekommen ist ein Protest gegen den Ukraine-Krieg, aber auch gegen fehlende Zivilcourage in unserer Gesellschaft. «Bühnen Bern» zeigt die Theaterparabel «Der Drache» des Russen Jewgeni Schwarz in einer mobilen Outdoor-Version.
«Der Drache», die 1943 von Jewgeni Schwarz geschriebene Politposse, wurde 1943, mitten im Zweiten Weltkrieg, von einem russischen Autor geschrieben. Das Stück ist eine Farce gegen die Diktatur und Gewalt, die damals von Adolf Hitler ausging, ein Protest gegen die Bereitschaft der Menschen, zu kollaborieren und sich zu unterwerfen. Nach zwei Hauptproben wurde die Fabel in Russland verboten.
Ein Drache terrorisiert die Stadt.
Nun hat der Bündner Schauspieler und Regisseur Bruno Cathomas den Stoff den heutigen Verhältnissen angepasst und der Geschichte, weit weg vom Original, eine neue Bedeutung gegeben. Ohne Namen zu nennen, aber man kann es sich denken: Die Diktatoren dieser Welt lassen grüssen. Allen voran Vladimir Putin. Aktueller könnte die Berner Produktion nicht sein. Sie erzählt von herrschaftlicher Gewalt und Unterdrückung, Unterwürfigkeit und Anpassung, aber auch von der Möglichkeit des Widerstands.
Zwischen Kapitulation und Aufstand
Die Geschichte: Eine Stadt ist vor hunderten von Jahren in die Hand eines Drachens (Vanessa Bärtsch) gefallen. Das Scheusal presst den Bewohnern einen hohen Tribut ab: Einmal im Jahr muss ihm ein Mensch geopfert werden. Diesmal ist es Esra (Viet Anh Alexander Tran), die Tochter von Charlesmagne (Yohanna Schwertfeger). Die Bewohnerinnen und Bewohner haben sich mit der Situation arrangiert, das aufgezwungene Menschenopfer akzeptiert. Immerhin garantiert der Drache Stabilität. Auch das mörderischste und ungerechteste Willkürregime kann funktionieren, solange es den Menschen vermeintliche Sicherheit bietet.
Charlesmagne (rechts) flüchtet in den Alkohol.
Doch dann kommt Lanzelot, ein junger Fremder (Linus Schütz), in einer goldenen Rüstung in die Stadt und stellt die alte, zweifelhafte Ordnung in Frage. Er verspricht den Spiessbürgerinnen und Spiessbürgern, den Drachen zu töten oder wenigstens zu vertreiben. Auf der Suche nach Verbündeten muss er aber feststellen, dass ihn niemand unterstützt. Anstatt ihre Tochter zur retten, versinkt Charlesmagne im Alkohol.
Esra und Lanzelot.
Die angepassten Stadtbewohner drücken sich. Auch dem korrupten Stadtpräsidenten (Jan Maak) und seinem Sohn (Jonathan Loosli) fehlt es an Zivilcourage. Man hat sich mit der Macht arrangiert. «Ich bin der René und sage nichts», spricht einer. «Ich schaue lieber weg», ein anderer. «Ich schliesse mich dem Vorredner an», ein Dritter.
Lanzelot, der mutige Aussenseiter, kämpft verzweifelt weiter: «Der Drache hat euer Blut vergiftet und die Sinne vernebelt. Warum wehrt ihr euch nicht gegen das Böse? Warum tätschelt ihr die Macht? Angst macht zornig, Angst macht klein, Angst will Ordnung haben.» Doch seine Aufforderungen zum Widerstand bleiben wirkungslos.
Mit aller Kraft kämpft Lanzelot (rechts) gegen den Drachen.
Auf offener Strasse kommt es zum Kampf. Lanzelot vertreibt den Drachen, überlebt selber nur schwer verletzt und stirbt schliesslich einen dramatisch inszenierten Tod. Sein Abgang gibt dem korrupten Bürgermeister Gelegenheit, aus der Defensive zu kriechen und sich als Befreier zu präsentieren. Plakate mit seinem Bildnis werden aufgehängt. Auf dem Höhepunkt des Triumphs,will er Esra heiraten. Als er eine Abfuhr erleidet, übergibt der Politiker das Amt seinem Sohn, einem Schönling.
Die Geschichte nimmt ihren Lauf: Fakenews machen die Runde, Korruption treibt bunte Blüten, Lanzelot taucht als Geist, blutüberströmt, wieder auf, der Bürgermeister entpuppt sich als der neue Drache. «Es kann sich noch so viel verändern, es bleibt doch alles beim Alten.» Will heissen: In der Krise gewinnt immer die Macht. Die Armen und Schwachen bleiben auch nach einer vermeintlichen Revolution hilflos, die Reichen werden noch reicher und mächtiger.
Lanzelots heroischer Tod.
Die Outdoor-Inszenierung vor der «Vierten Wand», dem Theaterrestaurant von «Bühnen Bern», erinnert an das Spiel der Commedia dell’Arte. Das Ensemble präsentiert die Rollen mit viel Komik, Dramatik, Klamauk und Übertreibung. Zuweilen glaubt man, die Protagonisten in Masken zu sehen. Fliegend wechseln sie vom Berndeutschen ins Hochdeutsche. Das Publikum wird miteinbezogen. Vorbeifahrende Fahrrad- und Autofahrer auch. Fremde Gläser werden ausgetrunken, Gäste umarmt, Lanzelot setzt sich auf einen fremden Schoss. Niemand zweifelt, dass es sich bei der beschriebenen Stadt um Bern, die Bundesstadt der Schweiz, handelt.
«Die Moral von der Geschicht»
Wie in jeder Diktatur, in jedem Krieg, nimmt das Schicksal seinen Lauf. Alle rufen nach Befreiung, klagen über Unterdrückung, Folter, Tod, doch nur einzelne wagen sich zu engagieren, sich zu erheben, Widerstand zu leisten. Zivilcourage ist den meisten ein Fremdwort. Die Mächtigen aber kennen die Feigheit der Spiessbürgerinnen und Spiessbürger. Sie nutzen die alte Devise von Orwell: «Macht und Kontrolle sind eine Frage des Systems.»
Denn: Sich gegen Mächtige zu erheben, braucht Mut. Freiheit heisst auch Verantwortung zu übernehmen. Das Hinterfragen eigener Denkmuster und der Verlust von Privilegien verlangen viel Kraft. Wer das Böse bekämpfen will, muss Fakenews und Korruption durchschauen und sich täglich davon distanzieren.
Die Katerkatze als Klettererin.
«Wo dus warm und weich hast, tust du am klügsten, wenn du schweigst und nicht nachdenkst über die unangenehme Zukunft», sagt die Katerkatze (Vanessa Bärtsch), die im Stück als Warnerin und Erzählerin auftritt. Recht hat sie. Denn Drachen gibt es überall auf der Welt. Man muss einfach etwas genauer hinsehen. Im Fall der Ukraine kann man nur hoffen, dass sich der Widerstand bald einmal auszahlt.
Titelbild: Heinrich, der Sohn der Bürgermeisters, spinnt Fäden und profitiert selber vom Machtwechsel. Alle Fotos Yoshiko Kusano
Geplante Vorstellungen bis 20. Juni. Das Stück wird in der kommenden Theatersaison ab Herbst 2022 wieder aufgenommen.