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Reisen aus weiblicher Sicht

Die Filmregisseurin und Schriftstellerin Doris Dörrie schaut sich in ihrem jüngsten Buch «Die Heldin reist» wie in einem facettenreichen Kaleidoskop an, was Reisen aus weiblicher Sicht bedeutet.

«Unterwegs zu sein, war mein Idealzustand, unterwegs fühlte ich mich von mir selbst befreit, und gleichzeitig träumte ich unbeirrt weiter davon, in der Fremde eine andere, bessere Version meiner selbst zu werden», schreibt Doris Dörrie gleich zu Beginn ihres neuen Buches, das von drei Reisen im Jahre 2019 handelt, bevor uns das Covid-Virus für längere Zeit in unseren vier Wänden gefangen hielt. Das wusste Dörrie während ihrer Reisen natürlich nicht, es war ihr jedoch anschliessend Anlass, darüber zu schreiben, insbesondere übers Reisen und über die Menschen nachzudenken, die sie begleiteten oder denen sie begegnete.

Wie selbstverständlich taucht dabei häufig die Frage nach der Rolle der Frau auf – «Die Heldin reist» ist ja der Titel des Buches. Um es gleich vorwegzunehmen: Entstanden ist kein feministisches Pamphlet, auch keinerlei weibliche Selbstbespiegelung. Obwohl Dörrie durchaus ernsthaft und differenziert nachdenkt, bleibt der «heilige Ernst» fern, im Gegenteil, die Autorin erzählt mit Ironie, denn das Vergnügen am Reisen, die Freude am Austausch mit Menschen, Frauen und Männern, wird sie wohl ein Leben lang begleiten.

Autofiktionales Schreiben

Drei Reiseziele gliedern den Text: San Francisco, Japan, Marokko. Dazwischen fliessen viele Erinnerungen und Erlebnisse aus früheren Lebensphasen der Autorin ein: autobiografische Elemente, Jugenderlebnisse, ihr Familienleben in Hannover, Erfahrungen aus der Studienzeit, am Filmset. Aber, sagt Doris Dörrie, sie habe den Inhalt strukturiert, sei eben nicht einem Stream of Consciousness gefolgt, sondern habe ihn geformt. «Und in dem Moment, wo wir formen, bewegen wir uns natürlich auch in der Fiktion. Aber wir formen natürlich auch ständig unsere Erinnerung. In dem Moment, in dem wir uns erinnern, passiert schon die Fiktionalisierung.» – Ein wichtiger Gedanke! Sobald wir etwas aufschreiben und dann wieder lesen oder anderen zum Lesen geben, werden unsere Erinnerungen zu Fiktion, die folgenden Erfahrungen haben das Erlebte verändert.

Den Inhalt des Buches wiederzugeben, ist keine leichte Aufgabe, denn, wie erwähnt, ein Erlebnis zieht eine andere Erinnerung nach sich, und daraus entwickeln sich weitere Betrachtungen, über die es sich lohnt nachzudenken. Zuweilen vermutet die Leserin, dass die Filmregisseurin schnelle Schnitte einsetzt, um uns bei der Stange zu halten.

Odysseus der Held – Penelope die Hausfrau

Die erste Reise, die Doris Dörrie allein antrat, führte sie nach Kalifornien, sie begann dort ein Studium an der Filmakademie. Nun reist sie zum x-ten Mal und erinnert sich: Sie war voller Neugier aufgebrochen, Angst kannte sie nicht. «Gerüstet oder nicht, auf dem Weg ins Abenteuer muss der Held die Schwelle in ein fremdes und gefährliches Land überschreiten», schreibt sie 2019.

Aber bei ihrer ersten Einreise vor Jahrzehnten war sie in Rage geraten, sie musste auf dem Einreiseformular ihre Rasse (race) angeben, angeboten wurde für Europäerinnen oder Europäer nur caucasian, was sie irritierte. – Ich erinnere mich, wie mich diese Frage ebenfalls verwirrt hatte bei meiner ersten Amerikareise. – Um kein Aufsehen zu erregen, schreibt Dörrie seitdem als Beruf stets unverfänglich «Hausfrau» – die absolute Antiheldin! Während des Fluges war sie sich gerade darüber klar geworden, dass nicht nur in der griechischen Antike, sondern auch in den Star-Wars-Epen der Aufbruch des Helden in die Welt das erfolgreiche Muster ist.

Das Taxi im Atlas-Gebirge

Mit solchen selbstironischen Kommentaren setzt die Autorin im ganzen Buch heitere Akzente. So erzählt sie, wie sie mit ihrer Freundin in Marrakesch ein Taxi für einen Ausflug ins Atlas-Gebirge mietet. Der Fahrer sei ihr vertrauenerweckend erschienen, das Taxi ein ziemlich neuer Mercedes. Und dann erzählt der Marokkaner auch noch ungefragt, dass er seiner Frau im Haushalt hilft, sogar staubsaugt. Die beiden deutschen Abenteurerinnen sind beeindruckt.

Dann hält das Taxi an einem Aussichtspunkt, und der Fahrer fordert die beiden auf, einen kleinen Spaziergang zu machen. Sir bräuchten nichts mitzunehmen, sagt er noch. Die beiden freuen sich auf ein paar Schritte in herrlicher Umgebung und plaudern über dies und das. – Bis sie sich unvermittelt als ausgesetzte Touristinnen fühlen. In ihrer Schreckvorstellung braust der schöne Mercedes mit all ihren Wertsachen davon und lässt sie in der Bergeinöde allein.

Doris Dörrie schildert diese Szene brillant, mit Spannung und Komik und mit dem peinlichen Eingeständnis, dass sie auf ein banales Vorurteil hereingefallen sind. Denn selbstverständlich fährt ihnen das Taxi langsam entgegen und bringt sie sicher zurück nach Marrakesch.

Zwei Frauen zwischen Japan und Deutschland

Das Buch enthält eine Fülle von Anekdoten, Erinnerungen, an einigen wichtigen Stellen schiebt die Autorin eigene Träume ein, ein Element, das den Geschichten Tiefe gibt. Am meisten berührt hat mich die Geschichte von Tatsu. Die Autorin begegnet ihr an einem Sushi-Stand, wo sie sich Mühe gibt, ihre Bestellung auf Japanisch aufzugeben. Da hört sie eine Japanerin auf Deutsch antworten, sie freue sich, endlich wieder einmal Deutsch sprechen zu können. Tatsu hatte vor Jahrzehnten in Deutschland Gesang studiert, sogar in Hannover, wo Doris Dörrie aufgewachsen ist.

Die beiden Frauen freunden sich buchstäblich übers Essen an. Tatsu kennt nämlich eine deutsche Konditorei, wo es typisch deutsche Leckereien gibt, Schwarzwälder Kirschtorte oder Baumkuchen. Sie unternehmen Verschiedenes gemeinsam, gehen in ein Badehaus, wo Doris Dörrie froh ist, dass sie sich an Tatsu orientieren kann, um an solch einem von Tradition geprägten Ort nichts falsch zu machen.

Bekannt ist die japanische Zurückhaltung, was Persönliches angeht. Zwischen den beiden Frauen entwickelt sich so viel Vertrauen, dass Tatsu nicht nur vom Studentenleben in Deutschland erzählt. Sie brauchte lange, um sich daran zu gewöhnen. Sie wurde dort «Tatze» genannt, weil sich niemand etwas unter ihrem Namen Tatsu vorstellen konnte. Schliesslich malte sie den Abdruck einer Tatze an die Tür ihres Zimmers. Doris Dörrie erbittet sich von Tatsu die Erlaubnis aufzuschreiben, was sie erzählt. Und was sie zu hören bekommt, ist nicht nur erheiternd oder seltsam, sondern empörend. Eines Tages erlebt Tatsu nämlich in Düsseldorf einen schlimmen Überfall aus Fremdenhass.

Im ersten Kapitel kündigt die Autorin an, dass sie am Ende noch einmal auf ihre Reise nach San Francisco zurückkommen werde, ein «cliffhanger» also, um Spannung zu erzeugen. Nach all den Szenen aus mehreren Kontinenten hatte ich längst vergessen, dass Dörries Rückreise die Heldenqualitäten wie Unerschrockenheit und Kaltblütigkeit, bzw. Furcht und Todesangst noch einmal von ganz anderer Seite beleuchten würde. Und wieder offenbart sich, dass Doris Dörrie nicht nur eine renommierte Filmemacherin ist, sondern kurzweilig und gescheit, wenn nötig mit kritischer Distanz zu schreiben versteht und immer mit persönlichem, menschenfreundlichem Engagement.

Doris Dörrie, Die Heldin reist. Diogenes Verlag Zürich 2022. 239 Seiten.
ISBN 978-3-257-07184-9

Titelbild: Vögel als Sinnbild des Reisens. Das Signet der deutschen Lufthansa ist ein Kranich. «Kranich trifft Kranich» © Rainer Brückner / pixelio.de

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1 Kommentar

  1. Vielen Dank für den interessanten Buchkitzler. Als Filmregisseurin der ersten Stunde schätze ich Doris Dörrie und ihre Sicht auf die Menschen, besonders den Frauenblick, sehr. Da jetzt wieder gereist werden darf, kommt das neue Buch von ihr gerade zur rechten Zeit.

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