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Verbotene Gefühle: Die hilfsbedürftigen Eltern nerven

So was dürfen wir eigentlich gar nicht empfinden: Aggressionen gegenüber den gebrechlichen Eltern. Wenn immer möglich halten wir diese Gefühle unter dem Deckel. Und das ist gut so.

Ungefähr alle zwei Wochen reist er zur 150 Kilometer entfernten Mutter. Er besucht die hochbetagte Frau zuerst in ihrer Wohnung, später im Heim. Er regelt das Finanzielle und den Schreibkram für sie. Und er erschrickt darüber, wie ihn diese durchaus erträgliche Belastung aggressiv macht. Er hatte eine gute Kindheit, eine liebevolle, sanfte Mutter, die ihn kaum schalt und ihm fast alles verzieh.

Das Bild der Eltern ändert sich. Einst waren sie fitte Rentner

Jetzt nervt ihn diese gebrechliche Frau. Er weiss nicht, über was er mit ihr sprechen soll. Er ärgert sich über ihre Unentschlossenheit. Er ist wütend, dass er wieder einen Abend opfern muss. Es ekelt ihn, wenn die Mutter mit den falschen Zähnen klappert und beim Kaffeetrinken sabbert. Er muss sich überwinden, wenn sie ihm längst verstaubte Guetzli aus der Büchse anbietet.

Der Kleingeist bin ich. Die Mutter ist vor einigen Jahren gestorben. Immer noch erinnere ich mich an meine Aversionen und erschrecke, ob meinem Widerwillen gegenüber meiner Mutter. Liebende Eltern, liebende Kinder, da passen solche Empfindungen doch nicht.

Ich habe bei Kolleginnen, Freunden und Bekannten angeklopft und erfahren, dass ich mit meinen dunklen Gefühlen längst nicht allein bin. Söhne und Töchter entwickeln Aversionen gegenüber ihren Eltern, wenn sie Betreuung oder Pflege benötigen. Oft sind diese dann hochbetagt. Dies bedeutet, dass vor allem jüngere Seniorinnen und Senioren mit solchen Empfindungen kämpfen müssen, die Seniorweb-Leserschaft etwa.

Alle Angefragten bestätigen, dass sie in ähnlichen Situationen ähnlich reagieren, mit mehr oder weniger gut versteckten negativen Gefühlen. Es geht nicht um Gewalt. Körperliche Gewalt schon gar nicht. Psychische Gewalt? Nun, da eine unwirsche Antwort, hier eine faule Ausrede, mal eine vorgeplante Unpünktlichkeit, ein vorgeschobenes Unwohlsein, das schon. Aber wir Normalos halten unsere Fassade sauber, nur hin und wieder zeigt sich ein Riss. Wir kämpfen mit diesen Gefühlen. Mutter und Vater haben so viel für uns getan. Jetzt, wo sie unsere Hilfe brauchen, ärgern wir uns über falsch zugeknöpfte Hemden, Hörprobleme, Vorwürfe, Forderungen und Uringeruch.

Psychologinnen raten, Konflikte auszutragen. Psychologen empfehlen, Gefühle zu zeigen. Funktioniert das auch hier? „Papi, mich ärgert, dass du beim Trinken schlürfst. Mami, du nervst mich mit deinen ewig gleichen Erzählungen.“ So mit den Eltern umzuzspringen, das geht nicht. Aushalten und Mund halten, da müssen wir halt durch. Konfliktbewältigung hin oder her.

Das Bild unserer Eltern ist ja schon früher gelitten. Während der Pubertät etwa, als sie für uns zu Geschöpfen mutierten, die überhaupt nichts verstanden. Als erwachsene Söhne und Töchter versöhnten wir uns wieder mit den Eltern. Später wurden sie zu rüstigen Pensionären, die man für ihre Freiheit beneidete. Und nun, da wir selbst zu mehr oder weniger fitten Rentnern geworden sind, treffen wir auf hilfsbedürftige Alte und schusslige Hochbetagte. So gut es geht, nehmen wir an ihren Defiziten teil. Aber irgendwann gehen sie uns auf den Keks.

Ich habe auch eine Fachfrau gefragt: Esther Perroud. Sie ist Coach und betreut unter anderem Bewohnende von Alters- und Pflegeheimen und deren Angehörige. Sie bestätigt die hier beschriebenen Aversionen. „Ich erfahre von diesen Aggressionen über die Schilderungen der Heimbewohnerinnen und –bewohner. Sie beklagen sich zum Beispiel, dass ihre Töchter oder Söhne sich unwirsch verhalten, oder dass sie vorgeben, keine Zeit zu haben. Ihr Rat als Coach: Ūber solche belastenden Gefühle zu sprechen hilft, sie zu bewältigen.

Jetzt sind sie hilfsbedürftige Betagte.

Manchmal nützt auch ein simples Rezept: Esther Perroud: „Gut gemeint besuchte die Tochter ihre 96-jährige Mutter zwei Mal in der Woche. Bloss: Die beiden stritten sich meist . Als sie sich einigten, sich nur noch alle zwei Wochen zu begegnen, verliefen die Besuche viel harmonischer.“

 


Untersuchungen gibt es über alles. Über Mobbing, über Erziehung, Ängste, Frustrationen, Gewalt, übers Trotzalter und die Pubertät. Bloss eines habe ich nirgends gefunden: Studien über das hier beschriebene Thema, Alltagsaggressionen von erwachsenen Kindern gegenüber ihren betagten Eltern.

Bilder: Pixabay/pst

 

 

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3 Kommentare

  1. Verbotene Gefühle; herzlichen Dank, dass auch dies mal zu einem Thema wurde, wir jetzt darüber sprechen dürfen.

  2. Ich sehe das Problem nicht. Was mir auf die Nerven geht ist, dass negative Gefühle nicht sein dürfen. Wir brauchen weder psychologische noch irgendwelche Studien oder religiöse Hilfestellungen, um zu empfinden, was wir empfinden.
    Aber eines ist mir wichtig, am Ende des Lebens sind wir alle nach wie vor menschliche Wesen, die m.E. ein Recht darauf haben, mit Würde und Respekt sterben zu dürfen.

  3. Ich selbst bin 80jährig und schätze es, wenn mich im Umfeld jemand mit Anstand und Würde auf ein «Marötteli» aufmerksam macht. Manchmal merkt man selbst nicht, dass man irgendwie «kurlig» geworden ist. Allerdings erwarte ich von meinem Umfeld auch eine gewisse Toleranz, z. B. dass ich mich nicht mehr so schnell bewegen kann oder mein Reaktionen langsamer geworden sind, oder gewisse Verhalten jetzt altershalber nicht mehr machbar sind.

    Dass Sie im Artikel nun erwähnen, dass man eben diese alte Person auf faire Art ansprechen soll, finde ich gut. Leider machen das das viel zu wenige der jüngeren Leute, oder sie schubsen und mäckern einem sehr unfreundlich an. Manchmal sind leider auch Senioren gegenüber anderen Senioren sehr untollerant.
    Miteinander sprechen und klären, ob Veränderung /Verbesserung machbar ist – ds wäre schon eine tolle Sache!

    So gesehen, ist es sicher eine gute Sache, das in der breiten Bevölkerung aller Alterstufen wieder mehr ins Bewusstsein zu rufen. Auch wir Alten möchten uns mit guten Verhaltensregeln im Umfeld bewegen können. Allerdings wehre ich mich je länger je mehr dagegen, wenn ich diskriminiert werde und das «nicht ansprechen» ist für mich auch ein Teil Diskriminierung = nicht ernst genommen werden.

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