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Wenn ich trübselig bin

Wenn ich trübselig bin, spüre ich, dass ich nicht bei mir bin. Ich hätte gestern eine Kolumne abliefern sollen. Sie war fertig geschrieben. Ich hatte mir über das Thema «Plausibilitätsprüfung» Gedanken gemacht. Als ich vor dem Abschicken den Titel ändern wollte, meldete der Computer, es bestehe Gefahr, dass der Text abstürzen könne. «Wollen Sie ihn wirklich ändern?» Ich tippte auf Ja und der Text verschwand. Das Fensterchen, das ich jeweils tippe, um einen Text zu öffnen, war grau. Die Kolumne existierte für mich nicht mehr. Ich wusste nicht, wie ich sie aus dem Computer hätte herausholen können. Das machte mich selbst grau und leicht melancholisch. Es handelte sich um eine sogenannte kognitive Melancholie, einem Zustand, von dem ich weiss, weshalb ich in ihm gefangen bin.

Mir war bewusst, dass ich nicht einfach im digital unendlichen Meer fischen konnte, um die Kolumne zu angeln. Also galt es neu zu schreiben. Ein anderes Thema wollte mir nicht einfallen. Ich erlebte eine kognitive Melancholie, die sich von einer emotionalen unterscheidet, welche das Denken schwarz macht. Meines war grau. «Grau?», stutzte ich.  Mir fiel Peter Sloterdijk mit seinem neuen Buch ein: «Wer noch kein Grau gedacht hat. Eine Farbenlehre»*. Den Titel ergänzt er im Text mit «… ist kein Philosoph». Er prüft die grossen Philosophen, ob bei ihnen das Wort «Grau» eine Rolle spiele, denn wer die Sache zu Ende denke, stosse auf ein Grau und verliere die Fröhlichkeit der Regenbogenfarben. Im Grau ist man im Unentschiedenen. Sokrates sagt den Gedanken von Sloterdijk mit dem schlichten Wort: «Ich weiss, dass ich nichts weiss». Der Spruch scheint nicht plausibel, denn Sokrates war ein vielwissender Athener. Präzisiert und gedeutet, ist er zu ergänzen: «Ich weiss, dass ich von den letzten Dingen nichts weiss». Das ist das Grau von Sloterdijk, bei mir hiess es bloss, du musst eine neue Kolumne schreiben, aber du weisst nicht worüber.

Schlapp vor Enttäuschung sollte ich mich also an die Arbeit machen. Es fiel mir nicht leicht. Die Kolumne müsste eine Aussage haben, die zu lesen sich lohnt. Ob ich das noch schaffen werde? Da ich ein Leben lang versucht habe, meine Pflicht zu erfüllen, griffen die Milliarden Neuronen und die eingespielten Synapsen im Gehirn mit dem Befehl ein, mich sofort an den PC zu setzen. Da sass ich nun und dachte mir, dass Kolumnen oft kleine anekdotenhafte Geschichten von Selbsterlebtem sind. Hatte ich mich nicht gerade mächtig  geärgert und mich dem obwaltenden Trübsinn übergeben? Mit Schreiben konnte ich meinen Frust überwinden und zugleich meine Verpflichtung erfüllen.

Während des Schreibens bemerkte ich, wie sich die Wut über mich und das Grau meiner Melancholie verdünnte. Ich sah wieder Farben, und da mir Sloterdijk zu Hilfe gekommen war, der mich belehrt hatte, man müsse das Grau in sich hineinholen, damit man weise werde, dachte ich an einen einfachen, aber weisen Satz. Meine Mutter, die mir, je älter ich werde, präsenter wird, würde mir wie dem Knaben, als er grau und «uliidig» war, sagen: «Geh in den Garten und jäte».

*Peter Sloterdijk: Suhrkamp 2022

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2 Kommentare

  1. Ärgerlich, wenn man Text verliert, an dem man mit viel Herzblut geschrieben hat. Aber der Computer, meine Enkel reden nur vom Compi, ist ja nur eine Maschine und eigentlich «einfach gestrickt» und für Schreibarbeiten bestens geeignet, wenn man seine Grundregeln beherzigt. Eine davon ist, den Text, an dem man gerade schreibt, vor den Änderungen immer abzuspeichern, besser noch, öfters zwischenzuspeichern. Und wenn unser Schreibgehilfe uns freundlicherweise darauf aufmerksam macht, dass etwas «abstürzen» könnte, die Frage immer mit Nein beantworten. Man lernt ja nie aus und die Wut kann ein effizienter Motor sein, um von vorne zu beginnen.
    Ihren Text über das Thema Plausibilitätsprüfung würde ich schon gerne lesen. Was ist heute noch plausibel, angesichts von massenhaften Falschnachrichten in den Medien? Wer hält sich noch an Fakten und gebraucht seinen Verstand? Themen, die einer Plausibilitätsprüfung standhalten müssten, gäbe es viele.
    Das Grau beschäftigt Sie, lieber Herr Iten. Wir hatten diese Woche im Seeland den ersten Morgennebel. Es lag ein sanftes Nebelgrau über den neu bepflanzten hellgrünen Feldern und die Spitzen des dahinterliegenden Waldes bildeten eine dunkelgrüne Skyline und dann kam die Sonne durch die Wolken. Grau kann durchaus malerisch und im Kontext wunderschön sein. Naturbetrachtung und Schreiben sind für mich zwei Wundermittel gegen graue Gedanken.

  2. Gegen das Grau? Jemandem dem es schlecht geht eine Freude machen! Seine strahlenden Augen sehen! Und sich nicht immer nur um das eigene Ich sich drehen!
    Dankbar sein dass Gott dem freiheitsliebenden Volk der Ukraine so grosse Kampfkraft schenkt und der falsch denkende und skurpellose Menschenschinder langsam seine Glaubwürdigkeit im russischen Volk verliert! Das sind meine Muntermacher! Im Übrigen hätte ich viele eigene Erlebnisse zum Lesen anzubieten, die oft erstens lehrreich, und zweitens auch amüsant zum lesen sind und sich erfrischend von den langweiligen Kulturbeiträgen abheben würden.

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