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Sizilien: Mythos und Schlachtfeld

Hanns Cibulkas Kriegstagebuch, verfasst auf Sizilien im Zweiten Weltkrieg, führt in die Gegenwart.

Tagsüber verlegt und repariert der junge Soldat wider Willen Telefonkabel, nachts stöpselt er – in Wechselschicht mit Kollegen – die telefonische Kommunikation des Regimentsstabs. Nachdem der Übertragungswagen vor Feindbeobachtung aus der Luft gut getarnt ist und die Crew sich in einem verlassenen Bauernhof mit üppigem Baumbestand eingerichtet hat, bleibt Zeit und Musse für den kulturell interessierten jungen Mann, die Umgebung zu erkunden, Klima und Pflanzen zu studieren und seine Beobachtungen an Goethes Mignon, Schullektüre als er vierzehn war, zu messen. Auch wenn ab und zu Kampfflieger im Tiefflug über die verkarstete Landschaft brausen, wenn Geschützdonner zu hören ist oder gar eine Infanterietruppe mit leeren Gesichtern vorbeimarschiert, sein Kriegserlebnis ist weitgehend angstfrei und eintönig.

Motorisierte Flak der deutschen Luftwaffe in Bereitschaftsstellung den Einsatzbefehl gegen die englisch-amerikanischen Landetruppen erwartend. 22.7.1943. Bundesarchiv Foto: Schwarz.

Erst sehr spät, nämlich zum 50. Jahrestag des Ausbruchs des 2. Weltkriegs, veröffentlichte Hanns Cibulka (1920-2004) die Blätter mit dem Titel Nachtwache, ergänzt mit offiziellen Tagesnotizen des Oberkommandos und literarisch überarbeitet. Der schmale Band ist in der Reihe Naturkunden, herausgegeben von Judith Schalansky, erschienen.

Zwar ein historischer Text, aber so gültig die Naturbeschreibungen vom trockenen Hügelland im Innern Siziliens noch immer sind, so nachhaltig trifft einen die Darstellung der Kriegshandlungen angesichts des Ukrainekriegs – anscheinend ändert sich trotz Fortschritt und Informatik, trotz Cyberwar und Drohnen kaum etwas am Schicksal der Soldaten an der Front. Oder auch an jenem der Dorfbewohner: «…sie werden die Rückzugsstrassen verstopfen und wenn die Tiefflieger angreifen, werden auch sie unter Beschuss liegen.»

Nach dem Krieg, der für Cibulka in britischer Gefangenschaft zuende ging, wurde er zu einem der wichtigsten Lyriker der DDR. Sein zweites literarisches Medium blieb seit den Anfängen das Tagebuch-Schreiben. Die Aufzeichnungen aus dem Sommer 1943, als die Eroberung der Insel durch die Alliierten bereits absehbar war, decken die Tage zwischen dem 14. Mai und dem 1. August 1943 ab. Also von der Versetzung seines Regiments nach Sizilien bis zum Transport des Malariakranken zusammen mit Kriegsverletzten Richtung Messina.

Zwei Bücher hat er sich besorgt, Ernst Jüngers Auf den Marmorklippen aus der Heeresbücherei in Caserta und in einem Antiquariat von Neapel die Fragmente des Empedokles, der vor rund 2500 auf Sizilien gelebt hat. Nun liest er die Marmorklippen und staunt, dass dieses Buch mit der Geschichte eines üblen Diktators trotz Hitler überhaupt publiziert wurde. Empedokles› Fragmente sind ihm Geschichtsbuch Siziliens, das damals in ständig sich grausam bekriegende Stadtstaaten aufgeteilt war:

Die Opfer drängen sich zum Mörder flehend;
er hört ihr Winseln nicht er schlägt sie tot,
dann rüstet er im Haus ein übles Mahl…

Er schliesst daraus: «Die Menschen errichten sich ein Feindbild, damit sie mit gutem Gewissen den Andersdenkenen an die Wand stellen können.» Auf Störungssuche wird er durch einen britischen Jagdbomber überrascht, der auf Stellungen in der Nähe Sprengbomben und von der Fliegerabwehr mehrfach beschossen wird, bis die Maschine explodiert und der Pilot sich mit dem Fallschirm rettet. Cibulka fragt sich, wo er wohl lande und ob er noch lebe.

Mit den in kursiver Schrift eingeschobenen Lageberichten aus dem «Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht. Oberbefehlshaber Süd» erfahren wir offiziell, wo der Feind steht, wieviele Flugzeuge – eigene oder gegnerische – abgeschossen werden, wo Kampfhandlungen zu wievielen «Verlusten» führen.

Der aus Mähren stammende und gegen seinen Willen in die Wehrmacht eingezogene Soldat gewinnt einen Gesprächspartner, Italiener, wenn auch nicht Einheimischer: Gabriele Struzzi hat die Liebe aus dem Piemont nach Sizilien geführt. Während Cibulka mehrere Kriegsjahre überlebt hat, ohne je einen Menschen erschiessen zu müssen, kommt der Ältere nicht über sein Trauma hinweg, am Isonzo im ersten Weltkrieg zahllose Soldaten mit dem Maschinengewehr niedergemäht zu haben: „Jede Nacht habe ich gebetet, dass mir die Männer verzeihen mögen, die ich am Tag zuvor abgeschossen hatte wie die Hasen.“

Der Ätna in trockener Lava-Landschaft. Foto: Anna Sulencka, Pixabay

Die Begegnung bleibt nicht unentdeckt und wird gerügt – den Italienern traut die Wehrmacht nicht mehr über den Weg – aber regelmässige nicht legale Beihilfe bei Telefongesprächen der Offiziere nicht dienstlicher Art, beispielsweise mit der Ehefrau oder einer Geliebten, bringen ihm einen Urlaubstag, den er auf Strozzis Motorrad in der fruchtbaren Ebene Paterno am Fuss des Ätna verbringt.

Die Erzählweise Cibulkas ist genau und unaufgeregt, er beschreibt die staubige, hitzeversengte Landschaft, die Oliven- und Orangenhaine an den Abhängen des Ätna nicht anders als den Job, den er macht, die Begegnung mit seinem Kommandanten oder den immer näher rückenden Feind. Als überzeugter Kriegsgegner erlaubt er sich aber auch zu kommentieren. Zum Beispiel philosophiert er über die Nachtwachen: « In einem Schützenloch am Don, in einer Lehmhütte in Wolhynien, am Sterbebett meiner Mutter. Das Beste, was man einem Menschen heute mitgeben kann, wenn er auf Nachtwache geht, ist nicht das Gewehr, es ist der Schlüssel, der ihm die Tür zu anderen Menschen öffnet. Überall dort sollten wir Nachtwache stehn, wo der Mensch in Gefahr ist, wo man ihn ausweist, unterdrückt, im eigenen Land heimatlos macht. Am Totenbett der Diktatoren sollten wir Nachtwache halten, damit sie nie wieder auferstehen, in den Arbeitslagern, den Dunkelzellen, vor dem eigenen Herd, damit das Feuer nicht ausgeht, aber auch dort, wo ein Mensch den Bleistift in die Hand nimmt und schreibt: Nachtwache halten vor einem leeren Blatt Papier.“

Das Kriegstagebuch ist eine ungewöhnliche Mischung aus authentischen Notizen, späteren Erweiterungen mit Lageberichten der Wehrmacht und Gedanken, die Cibulka aus der Rückschau beifügte. Es ist eine Annäherung an den Mythos Sizilien auf andere Weise als Goethe es tun konnte.

Titelbild: Ruinen des antiken Agrigento, an Empedokles› Zeit erinnernd. Foto: Benoît Brochet, Pixabay

Hanns Cibulka: Nachtwache. Tagebuch aus dem Kriege. Sizilien 1943. 160 Seiten. Naturkunden No. 78, Matthes & Seitz Berlin 2022. ISBN: 978-3-95757-947-8

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