Sexueller Missbrauch von Buben und Mädchen durch Erwachsene ist in unserer Gesellschaft eine traurige Realität. In ihrem Roman «unlebbar» verknüpft die Thuner Journalistin und Autorin Franziska Streun zwei Fälle mit realem Hintergrund. Ihr Motiv für das Buch: Über sexuelle Gewalt muss man reden.
Im Jahr 1973 wurde im Bernbiet ein 14-jähriger Junge tot aufgefunden. Todesursache: ein Gewaltdelikt. Landesweit berichteten Radio, Fernsehen sowie Zeitungen über den Fall. Sogar die Sendung «Aktenzeichen XY» brachte einen Fahndungsaufruf. Da trotz jahrelanger Ermittlungen kein mutmasslicher Täter angeklagt wurde, fasste Franziska Streun ihre Recherchen 2013 im Buch «Mordfall Gyger – eine Spurensuche» zusammen.
Aufmerksam wurde die Journalistin auf einen zweiten Missbrauchsfall. Eine junge Frau berichtete ihr, dass sie als Kind in den sechziger Jahren von der eigenen Familie zahlenden Männern zu sexuellen Handlungen angeboten und missbraucht worden war. Die Szenarien sind beklemmend, machen betroffen und ohnmächtig. Auch in diesem Fall kam es nie zu einer Anklage.
In ihrem neuen Roman «unlebbar» hat die Autorin nun die beiden Fälle fiktional, aber mit einem realen Hintergrund aufgearbeitet und miteinander verknüpft. Im Fall des getöteten Jungen Beat Gyger zeichnet Streun eine Version, wie und warum sich das Verbrechen am 14-Jährigen abgespielt haben könnte. Die Handlungen und möglichen Täter im zweiten Fall werden nur angedeutet, schockieren aber die Lesenden nicht weniger als die Rücksichtslosigkeit und kriminelle Energie der mutmasslichen Täter im ersten Fall.
Beichte im Schlafzimmer
Der Roman ist keine leichte Kost, aber ein wichtiges Werk bei der Sensibilisierung für ein Tabu-Thema. Die Geschichte beginnt mit dem physischen Zusammenbruch eines 75-jährigen Rentners in seiner Wohnung. Fred (wie die Autorin den Alten fiktiv nennt) wird von seiner Nachbarin Nicole (auch das ein fiktiver Name) und deren Sohn gefunden. Die 57-jährige Frau ruft den Notarzt, der einen Schwächeanfall diagnostiziert und eine Visite durch den Hausarzt empfiehlt. Im Verlauf des weiteren Gesprächs zwischen Fred und Nicole stellt sich heraus, dass der alte Mann seit fast fünfzig Jahren eine schwere Last mit sich herumträgt, von der er sich nun befreien will. Eine Beichte ist angesagt, und Nicole soll ihm dabei zuhören.
Über viele Romanseiten erfährt man als Leser/in nach und nach Details des Dramas. Im Bett liegend, erzählt der Alte in einem überhitzten Zimmer seiner Nachbarin stockend, wie der junge Mann (im Roman heisst er Christian) ums Leben kam. In einer Zeit, als Homosexualität noch strafbar war, hatten Fred und eine Gruppe von Gleichgesinnten Jugendliche angeworben und gegen Geld zu sexuellen Handlungen verführt. In ihren Handlungen sahen die Männer nichts Unrechtes, denn auch die teils provokativen Jungs schienen ihren Spass dabei zu haben.
Vorladung durch die Jugendanwaltschaft
Die Autorin Franziska Streun. Foto © Patric Spahni
Durch eine Bootspanne geriet Christian ins Visier der Polizei und erhielt eine Vorladung durch die Jugendanwaltschaft. Ab diesem Moment mussten die «Herren aus bester Gesellschaft» trotz Schweigekodex damit rechnen, dass der Strichjunge plauderte, Namen nannte und sie, die teils prominenten Unternehmer, Banker, Polizisten aufflogen.
In einem Park vor einer Villa am See, so erzählt Fred der schockierten Nicole, nahmen die Männer den Jungen in die Mangel, warfen ihn zu Boden und stürzten sich mit vollem Gewicht auf ihn. Dabei erstickten sie Christian. Der Leichnam wurde per Auto wegtransportiert und in einem Graben «entsorgt». Soweit die Geschichte des Lustjungen. Doch damit ist der Roman nicht am Ende.
Flashback in die eigene Jugend
Freds schmerzhafte Schilderungen wecken in Nachbarin Nicole Erinnerungen an die eigene Kindheit, die sie über Jahrzehnte verdrängt hatte. Kursive Einschübe machen Andeutungen an ein grausames Verbrechen. Im Buch wird geschildert, wie das Kind im Vorschulalter von seinen eigenen Eltern und einem Arzt gefügig gemacht worden und in einer Villa am See an Männer zu sexuellen Handlungen ausgeliehen worden war. Details des Missbrauchs werden den Lesenden glücklicherweise erspart. Doch der Schmerz, die Verzweiflung, die Ohnmacht der jungen Frau ob der Grausamkeiten kommt stark zum Ausdruck. Immer wieder sucht Nicole das Badezimmer auf, um sich zu übergeben.
Cover: Michael Streun
Zum Schluss des Romans scheint der Rentner seine schwere Last los zu werden. Doch die Strafe, über all die Jahre geschwiegen zu haben, wirkt nach. Und auch bei der in ihre Wohnung zurückgekehrten Nicole scheint der «Flashback» in die eigene Kindheit eine Blockade gelöst zu haben. «Langsam dreht sie sich auf den Rücken und streckt Arme und Beine entspannt von sich. Ein Lächeln umspielt ihren Mund.» Mit diesen Worten endet der Roman «unlebbar», für dessen Lektüre gute Nerven von Vorteil sind.
Den Opfern eine Stimme geben
Bleibt die Frage, weshalb Franziska Streun das Buch mit beklemmenden Schilderungen, sexueller Gewalt, Erniedrigungen und Verharmlosung geschrieben hat. «Ich wollte den Menschen eine Stimme geben, die Gewalt an sich erlebt haben (und heute erleben), jedoch schweigen mussten und müssen – und mit dem Roman dazu beitragen, dass über dieses Thema öffentlich gesprochen werden kann», schreibt die Autorin in einem Nachwort. Mit dieser Begründung ist die Suche nach den Tätern im «Mordfall Beat Gyger» in den Hintergrund gerückt. Das Verbrechen von 1973 ist ohnehin verjährt, und die meisten Peiniger dürften verstorben sein.
unlebbar, Roman, Franziska Streun, Zytglogge Verlag 2022, ISBN 978-3-7296-5101-2
Titelbild: Symboldfoto Pixabay.
Am 22. November 2022 um 19.30 Uhr findet in der Buchhandlung Krebser in Thun die Vernissage von «unlebbar» statt.
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