Eigentlich hat die 70-jährige Shauna, eine kluge, unabhängige Frau, mit der romantischen Liebe abgeschlossen. Doch ihr Wiedersehen mit Pierre, einem 45-jährigen Arzt, ändert alles. Er ist von ihr fasziniert, und sie verliebt sich erst zaghaft, dann leidenschaftlich in ihn. Die Regisseurin Carine Tardieu erzählt in «Les jeunes amants» diese Geschichte und lässt uns dabei noch viel Spannendes und Wertvolles über die Liebe erfahren.

Pierres Gefühle für Shauna stellen sein Leben auf den Kopf, seine Ehe und sein Familienalltag geraten aus den Fugen; selbst als er erfährt, dass sie an Parkinson erkrankt ist, will er alles für sie aufgeben. Sie ist hin- und hergerissen und hegt Zweifel, ob sie sich in ihrer Verletzlichkeit auf die Beziehung mit dem deutlich jüngeren Pierre einlassen soll.

Mit Feingefühl und Menschenkenntnis erzählt die französische Drehbuchautorin und Regisseurin Carine Tardieu diese Geschichte einer aussergewöhnlichen Liebe und lässt erahnen, worauf es sonst noch ankommen kann: etwa den Mut, wirkliche oder vermeintliche Hindernisse zu überwinden und was Sich-Verlieben weiter mit sich bringt. Ein Melodrama, das von Szene zu Szene neue Dimensionen des menschlichen Lebens offenlegt und erfahrbar macht: bei Shauna und Pierre, den andern Mitgliedern der Familien – und wohl auch bei uns.

 Die 73-jährige Fanny Ardant in der Rolle der 70-jährigen Shauna Loszinsky

 Die Vorgeschichte, von Carine Tardieu in einem Interview erzählt

«The Young Lovers» war ursprünglich ein Projekt von Sólveig Anspach, das Sie nach deren Tod übernommen haben. Wie wurde es weitergegeben? Wie haben Sie auf diesen Vorschlag reagiert?

Am Anfang fand ich es nur schwer erträglich, ich schreckte vor der Idee zurück, stimmte aber dann doch zu, wenigstens das Drehbuch von Sólveig zu lesen. Ich war überwältigt, denn durch die Geschichte ihrer Mutter beschwor sie ohne jeden Zweifel ihren eigenen Tod herauf. Ich hatte Vorbehalte gegen das Drehbuch, fand es zu düster und morbid. Ich war damals kurz vor der Geburt eines Kindes und dachte vor allem über das neue Leben nach. Als ich Sólveigs Kind zusammen mit Agnès, die für das Drehbuch und Patrick, der für die Produktion vorgesehen war, besuchte, dachte ich, das Projekt abzulehnen. Doch nachdem wir miteinander gesprochen hatten, fing ich an, daran zu arbeiten.

Bevor ich jedoch mit dem Schreiben des Drehbuchs begann, musste ich noch etwas erledigen: Sólveig hatte eine 20-jährige Tochter, Clara. Ich wusste, dass die Vorstellung, dass diese Geschichte von jemand anderem übernommen würde, für sie schmerzhaft sein könnte. Clara, die vorgesehene Mitdrehbuchautorin Agnès de Sacy und ich trafen uns, Sólveig war im Geiste auch dabei, und es war bewegend. Ich wollte ihr sagen, dass ich mir diese Geschichte wie die freie Adaption eines Romans zu eigen machen würde, dass es kein Sólveig Anspach-Film werden würde, obwohl ich deren Vision treu bleiben wollte. Ich bat sie nicht nur um ihre Zustimmung, sondern auch um ihr Vertrauen. Sie erinnerte sich daran, dass ihre Mutter freundlich von mir gesprochen und meine früheren Filme gemocht hätte, also sagte sie ja. Von da an fühlte ich mich befreit für «Les jeunes amants».

Der 49-jährige Melvil Poupaud in der Rolle des 45-jährigen Pierre Escande

Gesehen, gehört, erlebt – und zu Gemüte geführt

Die 112 Minuten von «Les jeunes amants» waren für mich voll schöner, guter und wahrer Erlebnisse, von Szene zu Szene in anderer Art und Weise, in je anderer Dimension und in verschiedener Intensität. Das, was ich für wahr angenommen hatte, berührte mein Leben, und in Erinnerung das Leben bekannter und befreundeter Menschen, machte Persönliches im Fremden erfahrbar.

Das im Film Erlebte auf faktische Wahrhaftigkeit zu prüfen, fand ich abwegig und vom Filmerlebnis wegführend, eingedenk dessen, dass schon die Griechen unser Tun αἴσθησις, aísthēsis, Wahrnehmung, nannten, als das, was sie für-wahr-genommen haben, auch wenn dies über die Jahrhunderte von der Philosophie und Psychologie erweitert wurde.

Für das Erfassen des Filmerlebnisses ist es auch überflüssig, das Schöne, Gute und Wahre, das wir erfahren, zuerst als die Leistung der Filmemacher:innen zu verstehen. Das Filmerlebnis entsteht grundsätzlich doch immer bloss zum einen Teil von der Produktion, zum andern vom Publikum, also von uns persönlich.

Von den Entdeckungen, Erfahrungen, Einsichten, Erkenntnissen, die dieser Film vermitteln kann, hier nur ein paar zufällige Beispiele:

Immer wieder gibt es Szenen, in denen nicht nur eine, sondern gleichzeitig mehrere Geschichten erzählt werden, sichtbare, hörbare oder an Gestik und Mimik ablesbare. Wir erleben eine Polyfonie wie bei einer Bach-Fuge, die trotz Unabhängigkeit jeder Stimme doch erst im Miteinander die umfassende Harmonie der Musik, hier des Filmes, ausmacht.

Oder wir erleben im Wechsel der Tiefenschärfe, wie sich uns am Anfang Shauna, gegen Schluss Pierre aus der Unschärfe in die Schärfe nähern, respektive in die Unschärfe verschwinden, wie wir der Protagonistin, dem Protagonisten visuell begegnen.

Gegen Ende des Films gibt es ein Handy-Gespräch zwischen Pierre und seiner Frau Jeanne, das in einem absolut beredten Schweigen besteht, eindrücklich und vielsagen, wie ich es nach meiner Erinnerung noch nie im Kino erlebt habe.

Das alles und noch viel mehr verdanken wir selbstverständlich den Menschen, die diesen Film geschaffen haben: hinter der Kamera der Regisseurin Carine Tardieu, den Drehbuchautorinnen Sólveig Anspach, Agnès de Sacy und Carine Tardieu, der Kamerafrau Elin Kirschfink, der Musikerin Éric Slabiak; den Menschen vor der Kamera, so Fanny Ardant als Shauna, Melvil Poupaud als Pierre, Cécile de France als Jeanne, Florence Loiret-Caille als Cecilia, Sharif Andura als Georges, Sarah Henochsberg als Rosalie. Ihnen gebührt ein grosses Dankeschön für das gute Kino, das schöne Spiel und die wahre Botschaft.

Eine grosse Liebe, diesseits und jenseits der Gewohnheiten und Normen

Die Schöngutheit (Die Kalokagathie) des Filmes

Wie nur selten erlebte ich beim Betrachten von «Les jeunes amants» etwas, oben bereits angedeutet, was zusammengesetzt ist aus «schön», «gut» und «wahr». Der ganze Film ist, so habe ich es wahrgenommen, schön und deshalb gut, gut und deshalb wahr, wahr und deshalb schön. Und ich erinnerte mich, vor vielen Jahren von dieser Dreiheit bei den Philosophen des Altertums gelesen zu haben, weshalb ich nochmals danach stöberte und fündig wurde, was ich zur Vertiefung hier ausführe:

Bei Platon findet sich bereits die Trias des Wahren, Schönen und Guten. Dazu lieferte er verschiedene Definitionen des Schönen: Das Schöne ist Angemessenheit, Eignung zum Guten, die «Schöngutheit» (Kalokagathie). Diese bezeichnet er als ein vorherrschendes Bildungsideal, das körperliche und geistige Vollkommenheit in Harmonie anstrebt. Auch im Mittelalter gehören Schönheit, Wahrheit und Gutheit zusammen. Diese Auffassung wurde in die christliche Philosophie hinübergeführt, was Thomas von Aquin in die Formulierung goss, Schönheit bedeutet Anschaubarkeit des Wahren und Guten. – Dieser Exkurs kann vielleicht die Totalität des Gefühls des Schönen, Guten und Wahren, die man in diesem Film erleben kann, erklären oder bestätigen.

Nachbemerkung

Eben komme ich aus der Ausstellung Niki de Saint Phalle im Kunsthaus Zürich, wo ich mir einen Satz der Künstlerin notiert habe, der gut zum Film «Les jeunes amants» von Carina Tardieu passt und gleichzeitig über die Geschichte hinausweist: «Man kann sich in jedem Alter verlieben. Wichtig ist bloss: sich zu verlieben.» Genau so hätte ich, anstelle des Satzes von de Saint Phalle, der als Deutung unseres Films dient, das Gegenteil schreiben können, oder das Gegenteil vom Gegenteil, oder das Gegenteil vom Gegenteil vom Gegenteil. So grossartig, umfassend und widersprüchlich kann ein schönes, gutes und wahres Kunstwerk das Leben abbilden, als Vorbild brauchen und zum Sinnbild erhöhen!

Titelbild: Pierre und Shauna

Regie: Carine Tardieu, Produktion: 2021, Länge, 112 min, Verleih: Filmcoopi