Mit der Plateforme10 ist beim SBB-Bahnhof Lausanne vor wenigen Jahren ein Museumszentrum entstanden, das Aufmerksamkeit verdient. Die drei Museen zeigen gegenwärtig Ausstellungen zum Surrealismus.
Sie malten die Welt in einem Auge, Schwäne, die Elefanten widerspiegeln (s. Titelbild), interessierten sich für Okkultes und für Wahrsagerei – auch heute noch staunen wir über die Phantasie, den Übermut und die Verrücktheiten der Surrealisten. Jedoch: wir haben uns daran gewöhnt. Ausgefallene Sujets, Formen und Farbkombinationen erstaunen uns heute nur noch, hundert Jahre nach der Veröffentlichung des manifeste du surréalisme, sie schockieren nicht mehr. Eher überrascht es uns, wie lange diese Werke, die alle Konventionen zu sprengen scheinen, schon in unserer Welt präsent sind.
Mario Prassinos: Ohne Titel [Anamorphose dans un globe oculaire], 1937. Aquarell auf Papier, 19,3 × 29,3 cm. © Succession Mario Prassinos / 2024, ProLitteris, Zürich. Foto: Thierry Rye, 2024
Der Surrealismus, den André Breton und seine Freunde 1924 proklamierten, war nicht auf die bildenden Künste, die Literatur und Musik beschränkt. Er beeinflusste ebenfalls stark die Bereiche der sogenannten angewandten Kunst, also der Alltagsgegenstände. Im Nachbargebäude des Kunstmuseums der Waadt, dem mudac, werden sie gezeigt, Peter Schibli hat darüber berichtet.
André Breton deklariert in seinem Manifest: «Surrealismus verstehen wir als einen reinen, psychischen Automatismus, der uns in die Lage versetzt, die eigentlichen Ideen auszudrücken, sei es mündlich, schriftlich oder auf andere Weise. Diese tauchen auf, ohne Kontrolle durch die Vernunft, jenseits ästhetischer oder moralischer Bedenken.» (aus dem Französ. mp) Hier klingt eine weitere neue Geistesrichtung an: Sigmund Freud und seine Psychoanalyse. André Breton und seine Freunde haben sich davon anregen lassen.
Marion Adnams: Emperor Moths / Thunder On the Left [Wiener Nachtpfauenauge / Donner auf der linken Seite], 1963. Öl auf Karton, 56 × 45 cm. RAW collection © Marion Adnams / Alle Rechte vorbehalten, 2024 Bildnachweis: RAW collection
Der wichtigste Grund für die Bewegung des Surrealismus ist in den Erschütterungen des 1. Weltkriegs zu suchen. Diese vier Kriegsjahre haben nicht nur unermesslich viele Menschenleben zerstört, sondern neben erschreckend grossen materiellen Schäden auch die soziale Ordnung zerbrechen lassen. So begann der Aufstand gegen die alten Konventionen nicht erst 1924; die Dadaisten, Vorläufer des Surrealismus und Kriegsgegner, fanden sich schon kurz nach Kriegsbeginn in Zürich zusammen. Das «Säbelrasseln» sollte zum Schweigen gebracht werden. Seit 1918 hatte sich um André Breton ein Kreis verschiedener Künstler gebildet, nicht ohne Streit, es gab sogar einmal tätliche Auseinandersetzungen. – André Breton war Schriftsteller und Kritiker, nicht Maler oder Bildhauer.
Leonora Carrington: Acrobates [Akrobaten], 1981. Gouache auf Papier, 57,5 × 75 cm. Musée cantonal des Beaux-Arts de Lausanne. Erwerb: 1988 © 2024, ProLitteris, Zürich Bildnachweis: Musée cantonal des Beaux-Arts de Lausanne
Das Kunstmuseum Lausanne präsentiert die surrealistischen Werke nach Themen geordnet, weniger orientiert an der Berühmtheit der Künstler. – Eine kluge Entscheidung. So lernen die Besucherinnen und Besucher die Vielfalt der Bewegung kennen, sehen Bilder von englischen, deutschen, Schweizer Künstlerinnen und Künstlern neben solchen von Berühmtheiten wie Salvador Dali und René Magritte. Max Ernst oder Meret Oppenheim sind vertreten, stehen aber nicht im Mittelpunkt. Surrealismus ist keineswegs auf Frankreich bzw. Paris beschränkt.
René Magritte, Mouvement perpétuel. 1935. Öl auf Leinwand. Esther Grether Family Collection (Foto mp)
Der Titel Surréalisme. Le Grand Jeu stellt das Spiel in den Fokus: Alles wird zum Spiel, sei es ein Würfelspiel: «Nie wird ein Würfelwurf den Zufall aufheben», wird Stéphane Mallarmé zitiert; oder sei es Schach, ein Lieblingsspiel von Marcel Duchamps und von Man Ray. Über letzteren erzählen die beiden Kuratoren Pierre-Henri Foulon und Paolo Baggi, er habe es zwar mit Leidenschaft gespielt, sei aber nie ein guter Spieler geworden. Die Kuratoren erwähnen Erika Billeter, eine wichtige Frau im Kunstbetrieb der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts und Pionierin der Themenausstellungen. Sie hatte 1987 in Lausanne die letzte grosse Ausstellung zu diesem Thema kuratiert: La femme et le surréalisme.
Ithell Colquhoun: La Cathédrale Engloutie [Die versunkene Kathedrale], 1950. Öl auf Leinwand, 130,1 × 194,8 cm. RAW collection © Alle Rechte vorbehalten, 2024 Bildnachweis: RAW collection
Ausgehend von Marcel Duchamps als zentralem «Multikünstler» und seinen Interessen an Kunst, die aus dem Augenblick entsteht, an Spekulation und Erotik, öffnen die Kuratoren den Blick auf unzählige Varianten surrealistischer Wege. Die Surrealisten begeisterten sich für Spiritistisches, das Tarot von Marseille, Alchimie oder eine Wahrsagerin in Genf, zu der viele Künstler der Gruppe pilgerten.
Als 1940 Hitlers Armee grosse Teile von Frankreich okkupierte, flohen die Künstler und Künstlerinnen ins nicht besetzte Südfrankreich, um von dort aus nach Übersee zu emigrieren. Für ein oder zwei Jahre bildete sich in der Nähe von Marseille noch einmal eine «Surrealistenszene».
Tristan Bartolini: Channeling Ancestors / The Mirror [Der Weg zu den Ahnen / Der Spiegel], 2024. Styropor, Gips, MDF, Spotlights, Videoprojektion, Farbe, Ton, 11min. jeder, 200 × 250 cm. Sammlung des Künstlers © Tristan Bartolini. (Foto: mp)
Im 2. Stock bietet das Museum der Schönen Künste acht jungen Künstlerinnen und Künstlern – den «ungezügelten und mutigen Enkelkindern» – Raum, zum historischen Surrealismus Stellung zu beziehen, direkt oder indirekt. Hier nur eine subjektive Auswahl: Tristan Bartolini (*1997, lebt in Genf) bezieht sich in seiner spektakulären Installation auf das Genfer Medium, von dem die Surrealisten fasziniert waren. Er sieht seinen Ansatz als «retro-futuristisch» und scheut sich nicht, seine queere Ausrichtung einzubringen.
Matthias Garcia: «Mon portail t’est ouvert» 2023, Öl auf Leinwand, Courtesy de l’artiste et de la galerie Sultana Paris (Foto mp)
Der in Paris lebende Matthias Garcia (*1994) benutzt Märchenstoffe als Ausgangspunkt seiner Kunst. Die Meerjungfrau, die wir von Hans Christian Andersen kennen, verzweifelt hier nicht am Hochmut des Menschen. Sie sucht die Akzeptanz ihrer Andersartigkeit. In Blumenranken, fantastischen Kreaturen und in nachtblauen Sphären sucht sie die Versöhnung zwischen Traum und Realität.
Die Ausstellung «Surréalisme. Le Grand Jeu.» im Museum der Schönen Künste Lausanne, Plateforme 10, fünf Minuten vom SBB-Bahnhof entfernt, ist noch bis 25. August 2024 anzuschauen.
Über die Ausstellung «Objekte der Begierde» im mudac (Museum für angewandte Kunst) gleich nebenan hat Peter Schibli berichtet. Sie dauert bis 4. August 2024.
Es folgt ein Bericht über die 3. Ausstellung zum Thema Surrealismus im Museum PhotoElysée, ebenfalls Plateforme 10, Lausanne.
Titelbild: Salvador Dalí: Cygnes reflétant des éléphants [Schwäne spiegeln Elefanten wider], 1937. Öl auf Leinwand, 51 × 77 cm Esther Grether Family Collection © Salvador Dalí, Fundació Gala-Salvador Dalí / 2024, ProLitteris, Zürich