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Für eine robuste Politik

«Wenn in einer Krise politische Lager bereit sind, über ihre weltanschaulichen Differenzen hinweg zusammenzuarbeiten, macht dies eine Gesellschaft robuster», eine der Kernbotschaften von Andreas Reckwitz, dem renommierten deutschen Soziologen, im Gespräch mit dem TagesAnzeiger zum Jahreswechsel. In der Pandemie seien jene Staaten handlungsfähiger gewesen, in denen es Vertrauen in die staatlichen Institutionen gab, wo Misstrauen herrschte, wie in den USA beispielsweise, sei es bedeutend schwieriger gewesen. Für die Resilienz, die Fähigkeit, Krisen durch die Gesellschaft, durch einen Staat zu bewältigen, sind nach ihm zwei Faktoren entscheidend: soziales Verhalten und politische Kooperation.

Verfolgt man die aktuellen Ereignisse in der Silvester-Nacht in deutschen Grossstädten, wie in Berlin, in heimischen Fussball-Stadien, wenn sich der FC Basel und der FC Zürich beispielsweise treffen, ist man in der Gesellschaft, aber auch in den Medien schnell dazu bereit, die Tugend «Soziales Verhalten in der Gesellschaft» massiv in Frage zu stellen. Das Fazit der Kurzanalyse ist sofort zur Hand: Die Gesellschaft driftet doch weit auseinander, der gesellschaftliche Zusammenhang ist abhandengekommen. Und wie steht es mit der politischen Kooperation, hat sie nicht zunehmend der Polarisierung zu weichen? Selbst in der Schweiz?

Reckwitz meint, dass sich Kooperation institutionell forcieren lasse, beispielsweise durch das Verhältnisstimmrecht, das in Holland, in Skandinavien und jetzt auch in Deutschland immer grössere Koalitionen nötig mache, um regieren zu können. Das fördere die Bereitschaft zur Zusammenarbeit. Für Reckwitz ist die Schweiz diesbezüglich «noch radikaler», gar ein Vorbild, weil der Bundesrat faktisch «eine Allparteien-Regierung» sei.

Dass dies in der Schweiz auch von der Wählerschaft gewünscht wird, kommt nicht zuerst im Bundesrat, sondern vor allem bei den kantonalen Regierungen zum Ausdruck, die im Gegensatz zum Bundesrat mehrheitlich vom Volk direkt gewählt werden. Sie erhalten dadurch eine erhöhte Legitimation, die sie oft auch gegenüber dem jeweiligen Parlament ausspielen.

Anschauungsunterricht bieten die Zürcher Kantonsrats- und Regierungsrats-Wahlen, die am 12. Februar 2023 anstehen. Bei allen Umfragen liegen die Regierungsrats-Kandidatin und die -Kandidaten an der Spitze, die sich in den letzten vier Jahren als besonders kooperativ erwiesen haben, die sich von den Parteiprogrammen zu lösen verstanden. Die ehemals stramme SVP-Nationalrätin Natalie Rickli gewann an Profil, weil sie in der Pandemie eine vernünftige, eigenständige Politik umsetzte, während ihre Partei-Oberen ihre sorgsamen Massnahmen verunglimpften, Alain Berset, den nationalen Krisenmanager, als »Diktator» diffamierten. Ernst Stocker, der SVP-Finanzdirektor, sicherte die Staatseinnahmen vor allen bürgerlichen Forderungen nach markanten Steuerreduktionen, damit der Stand Zürich auch weiterhin einen sozial angemessenen Haushalt führen kann.

Spitzenmann bei den Umfragen ist der jetzt parteilose Mario Fehr. Er ist für Michael Hermann, Politikwissenschaftler, verantwortlich für die Umfrage im TagesAnzeiger, der «beste Wahlkämpfer in der Schweiz». Fehr ist sich aber vor allem treu geblieben. Als der Druck der Jungsozialisten, die ihn vor allem auch wegen seiner Asylpolitik massiv attackierten und wegen eines IT-Projektes anzeigten, immer grösser wurde, hielt er politisch Kurs und zog die Konsequenzen. Er trat aus der Partei aus und kandidiert nun allein, ohne Unterstützung einer Partei, sieht man vom Sozialliberalen Forum SLF ab, das ihm zur Seite steht.

Die Wählerinnen und Wähler goutieren diese konsequente, kooperative Standfestigkeit nicht nur, sie belohnen die Bereitschaft, über die Parteigrenzen hinaus, lösungsorientiert zu politisieren, mit ihren Stimmen.

Und tatsächlich: Vertrauen geht verloren, wenn sich die Politik nicht mit den schwierigen Fragen auseinandersetzt, sie lösungsorientiert, über die Parteigrenzen hinaus engagiert zu lösen trachtet. Insbesondere jetzt mit der drohenden Klimakrise, mit der Migration, mit dem Energieengpass, mit dem brutalen Krieg in der Ukraine, der die Krisen mit ausgelöst hat, sie zunehmend verschärft. All diese Fragen können nicht auf den unteren Ebenen einer Lösung zugeführt werden. Aber in den Gemeinden, in den Kantonen, im Bund beginnt, was leuchten soll im weiten Rund: eine robuste Politik der Vernunft.

Im Herbst haben wir eidgenössische Wahlen. Neben der Wachstums- steht uns dabei auch eine Verzichtsdebatte bevor. Werden wir ärmer, und können wir damit umgehen oder ganz andersherum: Vergrössert der Verzicht auf grenzenloses Wachstum gar die Lebensqualität in einer anderen Hinsicht, im Hinblick auf ein beschaulicheres Leben?

Wir haben, wenn auch begrenzt, die Wahl. Dennoch: Wir können die Frauen und die Mannen wählen, welche sich lösungsorientiert den Zeitfragen stellen und jenen eine Absage erteilen, die sich an der Polarisierung erfreuen.

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3 Kommentare

  1. Wie meistens, bin ich mit den Inhalten und Ihren klaren Worten zur aktuellen Politik und mit dem Fazit Ihrer Kolumnen einverstanden. Ich fühle mich mit meinen eigenen Überlegungen abgeholt und lerne, als politische Laiin, auch immer wieder dazu.

    Was mich hingegen als Leserin, übrigens nicht nur bei Ihren Texten, immer wieder stört, ist der falsche oder ungenaue Sprachgebrauch. Zum Beispiel ist die Rede «vom sozialen Verhalten in der Gesellschaft» im Zusammenhang mit Ausschreitungen an Fussballspielen, den gewalttätigen Ereignissen an Neujahr in Deutschland usw. DIE Gesellschaft ist doch in diesen Fällen in der Regel männlicher Natur. Oft wird in Berichterstattungen von «Menschen» gesprochen, wo es sich bei genauem Hinsehen jedoch tatsächlich nur um «Männer» handelt. Wenn es sich in einer Sache nur um Frauen handelt, ist die Nennung des Geschlechts Usus, warum nicht auch beim Männern?
    Ich meine, nicht nur die Politik muss sich den aktuellen Gegebenheiten anpassen, sondern auch unser alltäglicher Sprachgebrauch. Es gibt Frauen und Männer. Diese sollte man auch so benennen, besonders wenn es um Gewalt oder Errungenschaften der Menschheit geht.

  2. Frau Mosimann, sie scheinen eine ernsthafte Lesende zu sein. Ja, absolut aktueller Streitpunkt ist die Frage: Wer bestimmt eigentlich den korrekten Sprachgebrauch? DIE Gesellschaft, besteht aus Frauen und Männern. Die Zeiten des «Mosimann und sin Wyb» sind wahrhaft vorbei, definitiv.
    Bei Ausschreitungen an Fussballspielen handelt es sich tatsächlich fast ausschliesslich um Männer, lauter Fans. Die weit weniger als 10% Mitbeteiligten sind weiblich, aber weil es keine feminine Form von Fan gibt, sind sie vielleicht eben nicht erwähnt. Bei den Menschen ist es etwas anders. Ein Homizid ist die Tötung eines Menschen. Heisst es nun bei einem Femizid, Tötung einer Frau, übrigens eine feministische Wortschöpfung, dass sich Frauen aus der Gesellschaft oder gar aus der Menschheit verabschiedet haben? Dann sind wir wieder beim Grossvater: s’git Buebe und Chind. Lassen wir doch den Schreibenden (m/f) etwas Zeit, bis die eingangs erwähnte Frage definitiv geklärt ist. Aber das kann etwas dauern.

    • Ja, es stimmt Herr Weber, ich lese viel und gerne und bin deshalb sensibilisiert, wenn es um Sprache geht. Zu Ihrer Frage, wer den korrekten Sprachgebrauch bestimme. Die angewandte Sprache ist Ausdruck des Zeitgeistes und das Denken der Menschen und damit auch das geschriebene Wort verändert sich stetig. Nur wenn es um neue Begrifflichkeiten, Frauen in der Gesellschaft betreffend, scheint mir das Denken etwas verlangsamt oder die sprachliche Sorgfalt wird nicht für so wichtig genommen. Ich bin es einfach leid und ich ärgere mich, wenn Frauen in der Sprache und anderswo nicht wahrgenommen werden. Wie gross die Unterschiede der Begrifflichkeiten und Wahrnehmung weiblich/männlich aktuell sind, macht auch das Buch von Rebekka Endler „Das Patriarchat der Dinge“ deutlich sichtbar.

      Übrigens, das neue Wort für Frauenmord Femizid, eine «feministische Wortschöpfung», wie Sie es nennen, hat durchaus seine Berechtigung und ist der Tatsache geschuldet, dass Morde an Frauen immer häufiger geschehen. In der Schweiz wird, gemäss Kriminalstatistik, jede zweite Woche eine unschuldige Frau von ihrem Ex-Partner umgebracht, nur weil sie eine Frau ist. In Deutschland geschieht dies jeden dritten Tag. Die Frauenhäuser sind schweizweit übervoll von geschlagenen Müttern und ihren Kindern, aber das dringend benötigte Geld der öffentlichen Hand fehlt. Die Prävention von Gewalt im Sport hingegen wird ernst genommen und mit Geld und sinnvollen Massnahmen gefördert, weil darüber immer mehr berichtet und geschrieben wird.

      Das Thema der Wortwahl, das ich in meinem Kommentar angesprochen habe, ist vielschichtiger und geht tiefer, als Sie es darzustellen versuchen. Es geht um Respekt und Klarheit in der Sprache und überall. Aber Sie haben recht, die Veränderung in den Köpfen kann noch etwas dauern.

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