Pro Natura hat die Blauflügelige Ödlandschrecke zum Tier des Jahres 2023 bestimmt. Sie wirbt für den Schutz vergänglicher Naturparadiese.
Die wärmeliebende Heuschrecke mag karge Flächen mit wenig Vegetation. Sie beherrscht die Kunst der Tarnung ebenso wie den spektakulären Auftritt. Sie ist perfekt an die Farbe ihres Untergrundes angepasst: Die Blauflügelige Ödlandschrecke ist kaum zu entdecken. Das ändert sich abrupt, wenn man dem Tier zu nahe tritt. Dann wirft sich das rund zwei Zentimeter grosse Insekt in die Luft, entfaltet seine blau-schwarzen Flügel und schwirrt davon. Doch kaum schwirrt es himmelblau, ist es auch schon wieder vorbei. Das Tier landet und wird von der Landschaft buchstäblich verschluckt.
Perfekt getarnt: Eine Blauflügelige Ödlandschrecke in ihrem typischen Lebensraum © Dieter Thommen
Das Tier des Jahres 2023 besiedelt trocken-warme Gebiete mit spärlicher Vegetation. Viele natürliche Lebensräume der Blauflügeligen Ödlandschrecke sind in den letzten 100 Jahren zerstört worden. Ersatzbiotope der Insektenart sind Kiesgruben, Bahnareale oder anderes Ödland. Doch das sind vergängliche Naturparadiese. Umso wichtiger ist es, die ursprünglichen Lebensräume der Blauflügeligen Ödlandschrecke zu schützen und wiederherzustellen: Auenlandschaften mit spärlich bewachsenen Kiesflächen und trockene, karge Wiesen und Weiden.
Frisch geschlüpfte, winzige Blauflügelige Ödlandschrecken © Christian Roesti
Im Winter sterben alle erwachsenen Blauflügeligen Ödlandschrecken. Das Überleben der Art liegt in den Eiern des letzten Sommers. Ab Ende April schlüpfen die Nymphen, wie die Larven dieser Insekten genannt werden. Bei jeder Häutung passt sich das Tier farblich noch besser an den Untergrund an, auf dem es lebt. Die Farbe kann dabei von einem hellen Grau bis fast schwarz reichen, auch ocker- und rotbraune Färbungen sind häufig zu finden. Es handelt sich hier um eine Anpassung an den Untergrund, die schrittweise bei den einzelnen Larvenhäutungen ausgebildet wird, aber auch erwachsene Tiere sind noch zu einem Farbwechsel fähig. Nach vier (Männchen) oder fünf (Weibchen) Häutungen verpaart sich die neue Generation. Die Weibchen legen ihre rund 120 Eier kurz nach der Paarung in die Erde. Die erwachsenen Tiere sterben mit den ersten Frösten. Der Zyklus beginnt erneut.
Die Blauflügelige Ödlandschrecke braucht sonnige, trockene Flächen mit karger Vegetation. Gezielte Pflegemassnahmen sichern solche Lebensräume auch im Siedlungsgebiet (Erlenmatt, Basel). © Martin Frei
Das Tier des Jahres mag es heiss, aber wichtig ist für die Blauflügelige Ödlandschrecke eine lockere Krautschicht. Sie schützt die wechselwarmen Tiere vor übermässiger Erwärmung. Die im Boden abgelegten Eier sind ausserdem weniger der Gefahr ausgesetzt auszutrocknen. Auch der Tisch ist gedeckt: Gräser und Kräuter stehen auf dem Speiseplan der blauen Fliegerinnen. Gelegentlich wird auch Aas nicht verschmäht.
Fliegendes Juwel: Eine auffliegende Blauflügelige Ödlandschrecke zaubert einen Farbtupfer in ihren kargen Lebensraum. © Wolfgang Hock
Bei der Beobachtung in der Natur machen die kräftig blau gefärbten Flügel mit den schwarzen Querbinden das Tier des Jahres 2023 unverwechselbar. Entdecken ist nicht einfach, beobachten, auch fotografieren sind erlaubt, aber die Art ist gesetzlich geschützt und darf nur mit kantonaler Bewilligung für Ausbildungs- und Forschungszwecke gefangen werden
Aktuelle Verbreitung der Blauflügeligen Ödlandschrecke in der Schweiz © Daten: info fauna, © Karte: swisstopo
In der Schweiz ist das Tier des Jahres 2023 vor allem im Wallis, im Tessin und entlang des Jurasüdhangs verbreitet. Doch auch in einigen anderen Regionen der Schweiz ist das Insekt anzutreffen. Die Blauflügelige Ödlandschrecke besiedelt geeignete Lebensräume von den Talböden bis gegen 2000 Meter ü.M.
Je nach Lebensraum wird der Tarnanzug angepasst: Ein Männchen. © Andreas Eichler
Die 115 in der Schweiz heimischen Heuschreckenarten sind nur eine kleine Gruppe innerhalb der rund 30’000 bisher bekannten einheimischen Insektenarten. Die Artenvielfalt und besonders auch die Menge an Insekten nimmt in der Schweiz seit Jahrzehnten dramatisch ab. 60 Prozent der Insektenarten sind bedroht. Heuschrecken sind ein unbestechlicher Gradmesser für diese Entwicklung.
Sie ist schon auf austrocknende Landschaften eingestellt: Ein wüstenbraunes Exemplar der Blauflügeligen Ödlandschrecke © Dieter Thommen
Viele Insektenarten mögen es heiß. Ist also die Klimakrise eine Chance für die bedrängte Insektenwelt? Die Antwort der Fachwelt ist ein klares Nein. Zwar werden Arten wie die Blauflügelige Ödlandschrecke in der Schweiz neue Lebensräume besiedeln können, wenn es heisser wird. Andere Arten dagegen geraten in Bedrängnis. Zum Beispiel all jene Tiere, deren Larven in kühlen, sauberen Gewässern gedeihen.
Arterhaltung konkret: Im Sommer paaren sich die Ödlandschrecken. Das Männchen (oben) ist deutlich kleiner als das Weibchen. © Andreas Eichler
Die artenreichen Auenlandschaften mit ihren weiten Schotterflächen sind in der Schweiz bis auf wenige Reste der Wasserkraftnutzung und den Flussverbauungen zum Opfer gefallen. Ein ähnliches Schicksal erlitten die Trockenwiesen und -weiden: Überbauung, Mist und Gülle oder Verwaldung haben sie innert 100 Jahren um 95 Prozent reduziert.
Oedipoda caerulescens, oder die Blauflügelige Ödlandschrecke © Didier Descouens
Wenn die Schweiz die letzten Naturjuwelen dem Stromhunger der Wegwerfgesellschaft opfert, gehen viele wertvolle Lebensräume auch für Insekten verloren. Renaturierungen von Auen und eine naturfreundlichere Landwirtschaft sind das Gebot der Stunde. Wo die Blauflügelige Ödlandschrecke menschengemachte Ersatzlebensräume besiedelt hat, braucht es eine angepasste Nutzung und Pflege.
Titelbild: Die kräftig blau gefärbten Flügel mit deutlichen schwarzen Querbinden machen das Tier des Jahres 2023 unverwechselbar. © Blickwinkel / F. Perseke
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