«La Ligne» der französisch-schweizerischen Cineastin Ursula Meier erzählt von einer Tochter, die im Streit ihre Mutter brutal attackiert und über die dann verfügt wird, sich drei Monate lang ihrem Elternhaus nur bis 100 Meter nähern zu dürfen. Entstanden ist ein schockierendes, tiefgründiges Familiendrama. Ab 16. Februar im Kino.

Die Filme von Ursula Meier, zum Beispiel «Sister» zeichnen sich aus durch eine kongeniale Kombination von asketischer Analyse und sensibler Empathie. So auch «La Ligne», dessen physische und psychische Gewalt spontan zum Wegschauen schockiert, hat man sich jedoch darauf eingelassen, mit seiner klugen Form uns in eine grossartige Geschichte hineinzieht und kaum mehr loslässt.

Vom Gewaltausbruch zur Trennlinie

Die 35-jährige Tochter Margaret kann ihr überbordendes Temperament nicht zügeln. Sie hat im Streit ihre Mutter Christina gewalttätig angegriffen und ihr das Mobiliar zerstört, bis sie von der Polizei überwältigt und abgeführt wird. Bis zur Verurteilung wird verfügt, dass sie während drei Monaten keinen Kontakt zur Mutter haben und sich dem Haus maximal auf 100 Meter nähern dürfe. Ausgesperrt zieht es sie umso stärker zurück, und sie kommt jeden Tag an die Linie, welche die Grenze bildet zwischen ihr auf der einen Seite und Christina sowie der jüngeren Schwester Marion und der älteren Schwester Louise auf der anderen.

Wie schon bei ihren früheren Filmen beweist Ursula Meier auch hier einen scharfen Blick für fragile Familienstrukturen und die menschliche Seele, deren Facetten, Abgründe und innere Zerrissenheit. Die emotionale Dichte und die wahren Ausmasse dessen, was unterschwellig wohl schon lange gebrodelt hat, offenbaren sich dem Publikum erst nach und nach. Gefangen in einer toxischen Tochter-Mutter-Beziehung, hadert jede der beiden Frauen auf ihre Weise mit der Sehnsucht nach Anerkennung, Geborgenheit und Liebe. Zwischen ihnen steht Marion, hilflos und ohnmächtig. Stéphanie Blanchoud als Margaret und Valeria Bruni Tedeschi als Mutter, zwei internationale Stars, Elli Spagnolo als Marion, sinnigerweise eine Laiendarstellerin: alle spielen grossartig.

Die Linie zwischen Innen und Aussen, Marion und Margaret (v. l.)

Bitte kein Psychologisieren und Moralisieren!

Zu Beginn des Films sehen wir, wie Margaret von ihrer Familie aus dem Haus geworfen wird. Die Anfangsszene ein handfestes Verstossen Margarets aus der Familie. Der Tsunami, von dem aus sich die Wellen der Gewalt über die Geschichte fortsetzen, treibt die Geschichte an und verleiht ihr seine Spannung. Oft sind es
Personen, die Geschichten am Laufen halten, in «La Ligne» sorgt die wachsende Distanz zwischen den Personen dafür. An den Rand, über die Grenze gedrängt, aus der Familie verstossen ist Margaret. – Bei ähnlichen Szenen in ähnlichen Filmen meldet sich bei uns schnell das Bedürfnis, um zu verstehen, ein Psychologisieren, und um zu bewerten, ein Moralisieren. Beides ist in meinen Augen gefährlich und führt zu vorschnellen Schlüssen. Zuwarten lohnt sich.

Die Schreie und Faustschläge sieht und hört aus nächster Nähe Schwester Marion. Sie bringt gleichzeitig einen gesellschaftlichen und christlichen Hintergrund mit Ritualen und Liedern aus der Weihnachtsliturgie in die Beziehungen zwischen den Frauen. Die familiären bürgerlichen Normen und Perspektiven in dem kleinen Dorf irgendwo in der welschen Schweiz vertritt vor allem Louise, die Zwillinge bekommt. Zwischen diesen beiden Polen eingespannt sind Margaret und Christina in ihrem Kampf um Gut gegen Bös dieses Welttheaters.

Christina mit Blick auf die andere Seite der Linie

Der Schauplatz der Kämpfe

«Ich hatte die Idee eines Westerns in der heutigen Schweiz zu realisieren, und zusammen mit der Kamerafrau Agnès Godard trafen wir die Entscheidung, den Film in Cinemascope zu drehen. Diese Distanz von 100 Metern rund um das Haus der Familie, der verbotene Raum für Margaret, warf eine Reihe spannender filmischer Fragen auf», meint Ursula Meier in einem Interview, das im Anhang integral steht. «Mit welchen Brennweiten sollten wir arbeiten, um dieser Distanz in jeder Szene gerecht zu werden? Die Entscheidung, was gezeigt und was nicht gezeigt wird: Was sieht man vom Haus der Familie von der Linie aus und umgekehrt? Anfangs suchten wir nach einer sehr langen Strasse in einem Wohngebiet, später entschieden wir uns dafür, ein Haus zu suchen, das in einem offenen, wenig strukturierten Gelände lag. Dieser neue Ansatz machte die Linie, die Grenze, noch merkwürdiger und absurder, da sie sich ohne erkennbare Logik durch mehrere, verschiedenartige Räume zog: eine Strasse, einen Parkplatz, Felder, einen Kanal.»

Wie die Regisseurin mit der jungen Hauptdarstellerin jedes Detail der Umgebung und der Räume, technisch gesprochen des Dekors, in welchem das Drama abläuft, suchten und diskutierten, so lohnt es sich für uns, ebenso jedes Detail zu befragen, im wörtlichen Sinn zu erfahren. Dazu fällt mir ein Zitat des ungarischen Filmtheoretikers Béla Balázs ein: «Der Film kennt keine reine Äusserlichkeit und keine leere Dekorativität. Eben weil im Film alles Innere an einem Äusseren zu erkennen ist, darum ist an allem Äusseren ein Inneres zu erkennen.» In Szene gesetzt wurde die Geschichte mit einem grossartigen Drehbuch samt adäquater Montage, vertieft durch die Kamera von Agnès Godard und die Musik von Jean-François Assy, Stéphanie Blanchoud und Benjamin Biolay.

Louise, Margaret, Marion (v.l.)

Der Rest ist Schweigen …

Margaret kämpft wie ein verwundetes Tier, weil sie nicht anders kann, weil ihr die Worte fehlen, hypersensibel und ohne Filter reagiert sie. Jedes Mal, wenn sie sich in einer Situation wiederfindet, die sie berührt oder tief verletzt, steigt dieses wilde Ding in ihr hoch. Jeder Schlag, den sie austeilt oder einsteckt, bestätigt ihr unbändiges Bedürfnis nach Verständnis, Anerkennung und Liebe, das sie unterdrückt, weil es tief in ihrem Herzen vergraben ist. Sie ist bei einer jungen, unreifen Mutter aufgewachsen, die sich nie zurückgenommen hat, die ihre Liebschaften immer ohne Rücksicht auf ihre Kinder ausgelebt und ihnen die Verantwortung für ihre gescheiterte Karriere als Pianistin aufgebürdet hat. Margaret steckt in einer chimärischen Kindheit fest und leidet an der trostlosen Familienverbindung. Auch wenn der Begriff «Borderline» im Film nie verwendet wird, weil er die Figur auf eine Pathologie reduzieren würde, ist ihr Verhalten dem von Menschen ähnlich, die an dieser Persönlichkeitsstörung leiden.

Margaret mit ihrem Ex-Freund Julien

… und Trauer

Als Verbindung zwischen den Figuren dient immer wieder die Musik. Sie bildet das einzige positive Erbe, das die Mutter an Margaret und diese weiter an Marion gibt. Bei Margaret gleicht die Musik den Mangel an Zuneigung aus und ersetzt in guten Momenten ihre Unfähigkeit zu sprechen. Sie offenbart dann eine zunächst ungeahnte Facette, ein Talent voller Zerbrechlichkeit und Zärtlichkeit, doch mit Widerstandskraft, die im Gegensatz zur Gewalt steht. Musik ist für uns ein Fenster zu ihr. Der Ex-Freund kennt sie in- und auswendig und weiss, dass sie angreift und zuschlägt, anstatt zu reden, wenn sie verletzt ist. Auch wenn er immer noch Liebe für sie empfindet, hat er die Beziehung beendet. Mit ihr zu leben, ist für ihn zu schwierig.

Das Duett von Benjamin, von Margaret als Solo gesungen

Die Musik als Akteur

Der Ex-Freund von Margaret, Benjamin Biolay, hat einen Song für den Film komponiert, ein Duett, das die Liebesgeschichte zwischen ihnen behandelt. Ein Duett, das sie in der Vergangenheit gemeinsam gesungen haben. An Heiligabend singen sie gemeinsam Teile des Liedes, wie in einem gestohlenen, verschütteten Augenblick, beide erfüllt von ihrer eigenen Melancholie und Hilflosigkeit. Bei dem von ihm für sie organisierten Auftritt singt sie das Duo dann mit Erfolg als Solo.

Titelbild: Mutter Christina, Tochter Margaret

Anmerkungen der Regisseurin Ursula Meier zum Film «La Ligne»

Regie: Ursula Meier, Produktion: 2022, Länge: 103 min, Verleih: Filmcoopi