StartseiteMagazinGesundheitErste Hilfe in psychischen Krisen

Erste Hilfe in psychischen Krisen

Psychische Belastungen haben Hochkonjunktur, was neue Hilfsangebote nötig macht. Vor vier Jahren hat die Stiftung «Pro Mente Sana» das Projekt «ensa» lanciert. Ein Gespräch mit einer Kursleiterin und einem Kursleiter.

Fachleute schlagen Alarm. Psychische Erkrankungen sind seit einigen Jahren im Vormarsch. Laut Studien treten die meisten psychischen Krankheiten vor dem 25. Lebensjahr in Erscheinung. Das Bundesamt für Gesundheit schätzt, dass 10 bis 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen gefährdet sind, gesundheitliche und soziale Probleme wie Sucht, Gewalt oder psychische Belastungen zu entwickeln. Zu den häufigsten Symptomen zählen Angststörungen, depressive Störungen sowie sogenannte dissoziale Störungen, bei denen Normen missachtet und die Rechte anderer verletzt werden. Die zunehmend eskalierende Gewalt an Schulen ist eine Ausdrucksform.

In einer Unicef-Umfrage zur psychischen Gesundheit junger Schweizerinnen und Liechtensteiner zwischen 14 und 19 Jahren gaben 2021 37 Prozent der Befragten an, psychische Probleme zu haben. 17 Prozent der Jugendlichen mit Anzeichen einer Angststörung oder einer Depression hatten bereits einen Suizidversuch unternommen, die Hälfte davon sogar mehrere. Fast 30 Prozent aller Befragten gaben an, mit niemandem über ihre gesundheitlichen Probleme zu sprechen. Gerade mal drei Prozent haben sich aus eigenem Antrieb an Fachleute gewandt.

63 Prozent der betagten älteren Personen mit depressiven Symptomen klagen über einen  schlechten Gesundheitszustand und haben Angststörungen.

Betroffen von psychischen Krisen sind auch Seniorinnen und Senioren, auch solche in Alters- und Pflegeheimen: Laut dem Bundesamt für Statistik liegt bei 28 Prozent der Heimbewohnerinnen und -bewohner eine diagnostizierte Depression vor. Zusätzliche 34 Prozent erhielt die Diagnose Depression nicht, zeigte aber depressive Symptome. Eine wichtige Folge ist, dass sich mit dem Auftreten von depressiven Symptomen der selbstwahrgenommene Gesundheitszustand verschlechtert: 63 Prozent der betagten älteren Personen mit depressiven Symptomen klagten laut Umfrage über einen schlechten Gesundheitszustand und Angststörungen. Diese Menschen sind in ihren Alltagsaktivitäten mehr eingeschränkt als Personen ohne depressive Symptome.

Als Beispiel: Das Spital Frutigen hat reagiert

Bei Erwachsenen wird die Zunahme psychischer Erkrankungen an der wachsenden Zahl an Arbeitsausfällen sichtbar. Laut der «PK Rück» und der Krankenversicherung «Swica» stiegen Absenzen vom Arbeitsplatz im Jahr 2020 um 15 bis 20 Prozent. Als Gründe werden das Fatigue-Syndrom, das Post-Covid-Syndrom sowie Anpassungsstörungen genannt. Der Präsident von «Pro Mente Sana», Dr. Thomas Ihde, geschäftsführender Chefarzt der «Spitäler fmi AG», bestätigte in einem SRF-Beitrag diesen Trend. Die Oberländer Spitäler haben darauf reagiert: Im Frutigen beispielsweise arbeiten heute 15 Personen mit einer Ausbildung in psychiatrischen Krankheitsbildern. Noch vor einem Jahrzehnt fehlten entsprechende Spezialistinnen und Spezialisten.

Angesichts dieser besorgniserregenden Entwicklung ist es wichtig, dass nicht nur Fachpersonen, sondern auch Laien, Menschen aus der Familie oder dem sozialen Umfeld erkennen, wenn eine Person Unterstützung braucht. Hier setzen die «Erste Hilfe-Kurse» der Stiftung «Pro Mente Sana» an. Das Projekt «ensa» wurde 2019 nach dem Vorbild des australischen Programms «Mental First Aid» gestartet. «ensa» bedeutet in der Sprache der australischen Ureinwohner «Antwort». Schweizweit haben bis Oktober 2022 10 000 Personen «Erste Hilfe-Kurse für psychische Gesundheit» besucht. Vision von «Pro Mente Sana» ist es, in den nächsten Jahren in der Schweiz eine Million Laienhelferinnen und -helfer auszubilden.

Die beiden Instruktoren des Spiezer Kurses: Esther Schläppi-Burkhalter (links) und Arnold Ruef (rechts).

Am 23. Februar startet in Spiez ein zwölfstündiger Kurs «Erste Hilfe für psychische Gesundheit» in vier Modulen. Ähnliche Kurse finden in Zürich, Schaffhausen, Uster, Winterthur, Frauenfeld, Chur, Balzers, Sarnen, Biel, Zollikofen und Luzern statt. Seniorweb sprach mit den beiden Spiezer Instruktoren, Esther Schläppi-Burkhalter und Arnold Ruef, über das Angebot.

Breites Zielpublikum

Nach Aussage der beiden Leitungspersonen versetzen «ensa Erste-Hilfe-Kurse» Laien in die Lage, auf Menschen mit psychischen Schwierigkeiten zuzugehen und ihnen hilfreich zur Seite zu stehen. Zielgruppe sind Familienangehörige von Menschen mit psychischen Erkrankungen, aber auch Sozialarbeiterinnen und -arbeiter, Mitarbeitende von Kirchen, Spitex-Angestellte, das Personal von Blaulicht-Organisationen, Samariter sowie Lehrpersonen. Laut Arnold Ruef werden drei Dinge vermittelt: das Erkennen von Symptomen psychischer Erkrankungen und die Vermittlung von Möglichkeiten, betroffene Menschen anzusprechen.  Drittens erhalten die Kursteilnehmenden Adressen von entsprechenden Fachpersonen, beispielsweise Therapeuten, Psychologen, Psychiater und geeigneten Institutionen.

17 Prozent der Jugendlichen mit Anzeichen einer Angststörung oder einer Depression haben bereits einen Suizidversuch unternommen, die Hälfte davon sogar mehrere.

Als Lehrmittel wird ein 290seitiges, strukturiertes, aktuell aufgearbeitetes Buch abgegeben, das auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruht. In vier Modulen werden die Themen zuerst theoretisch behandelt. Mit Hilfe von Filmen und anhand von Rollenspielen wird dann der Bezug zur Praxis hergestellt. Dabei geht es neben der Wissensvermittlung und dem Erlernen geeigneter Gesprächstechniken auch um die Sensibilisierung des Einfühlungsvermögens. In städtischen Regionen haben sich entsprechende Kurse bereits etabliert, auf dem Land besteht Nachholbedarf. Dafür sind die Netzwerke und Vertrauensträger in den Oberländer Tälern besser organisiert als diejenigen in den Städten. So wird der Kurs in Spiez in Zusammenarbeit mit der Kirchlichen Arbeitsgemeinschaft durchgeführt.

Rückzug in die Isolation als Alarmsignal

Wie merkt man, dass ein Mitmensch in eine psychische Krise rutscht oder bereits darin steckt? Laut Esther Schläppi-Burkhalter sind Verhaltensstörungen unter anderem daran zu erkennen, dass sich betroffene Personen zurückziehen, in der Schule oder am Arbeitsplatz fehlen, bisher übliche Kontakte meiden. Dann sei es wichtig, auf diese Menschen zuzugehen und sie nicht allein zu lassen. Dafür braucht es neben Vertrauen und Mut auch viel Empathie.

Das Erkennen von Symptomen psychischer Erkrankungen ist ein Ziel des ensa-Kurses.

Für Arnold Ruef ist die Entstigmatisierung des Themas durch Erfahrungsaustausch und wirkungsvolle Informationen ein wichtiger Aspekt. Ziel der Kurse sei es, «der psychischen Gesundheit aller Menschen in unserer Gesellschaft eine Sprache sowie Raum für Dialog und Austausch zu geben, so wie dies bei körperlichen Beschwerden bereits geschieht.» Dass die Gesellschaft auch bei psychischen Erkrankungen in der Verantwortung steht, ist für Ruef klar: «Es kann jedermann treffen. Lindern können wir nur gemeinsam. Es geht uns alle an. Das lohnt sich für alle!»

Die «ensa Erste Hilfe-Kurse» der Stiftung «Pro Mente Sana» stehen unter dem Slogan: «Nichts tun ist immer falsch.»

Titelbild: Laut Studien treten die meisten psychischen Krankheiten vor dem 25. Lebensjahr in Erscheinung. Fotos: Pixabay und PS

LINKS

Die Kurse: «Erste Hilfe für psychische Krankheiten»:  Anmeldung und Informationen:

Die Stiftung: Pro Mente Sana

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