StartseiteMagazinLebensartAchtsamkeit oder die Kunst da zu sein

Achtsamkeit oder die Kunst da zu sein

Kann mit Achtsamkeit das Lebens besser gelingen? Dient Achtsamkeit der Stressbewältigung? Oder ist Achtsamkeit in einer narzisstischen Kultur bloss eine eitle Beschäftigung mit sich selbst?

Michael Huppertz hat im Jahre 2022 ein Buch veröffentlicht mit dem Titel: «Die Kunst da zu sein. Häufig, selten und nie gestellte Fragen zur Achtsamkeit.» Ist es denn eine Kunst, da zu sein? Können wir nicht einfach und simpel da sein? Ja, können wir, aber wir können auch achtsam da sein. Worauf denn achten? Auf die Innenwelt, die Aussenwelt, die Mitwelt, das Verhältnis von Aussen- und Innenwelt? Und was heisst es denn, auf all dies und anderes achtsam zu sein?

Solchen und ähnlichen Fragen geht Michael Huppertz in seinem Text nach. Er hat Soziologie, Philosophie und Medizin studiert, arbeitet als Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie, seit 1997 mit achtsamkeitsbasierter Psychotherapie. In diesem Zusammenhang hat er schon mehrere diesbezügliche Bücher und Texte veröffentlicht, z. B. im Jahre 2009 «Achtsamkeit. Befreiung zur Gegenwart.»

In der Einleitung seines neuen Buches verortet Huppertz die Achtsamkeit in vielen Menschen, die seit Jahrtausenden «Gegenwärtigkeit, Absichtslosigkeit und Offenheit für ihr Leben» (S.7) praktizieren. So gesehen sei die Haltung der Achtsamkeit «ein geistiges Weltkulturerbe, das nirgendwo zu Hause ist.» (S. 7). Das mag überraschen, wird der Achtsamkeitsboom der Gegenwart weltweit doch auf buddhistische Traditionen zurückgeführt. Beispielsweise basiert das Achtsamkeitskonzept, wie es im MBSR (Mindfulness-Based Stress Reduction, d.h. achtsamkeitsbasierte Stress-Reduktion) von Jon Kabat-Zinn entwickelt wurde, auf buddhistischen Meditationspraktiken, die Kabat-Zinn ab seinem 21. Lebensjahr kennenlernte und seither, angeregt durch verschiedene buddhistischen Traditionen, praktiziert.

Huppertz kritisiert bestimmte Achtsamkeitsverständnisse, die sich allzu nah am Zeitgeschmack orientieren: «Fixierung auf das individuelle Glück» und die bloss «individuelle Verantwortung»; «Heilsversprechen in einer unheilvollen Welt»; Rückzug in die Innenwelt und die eigene Befindlichkeit; «Flucht vor der Erinnerung und der Verantwortung für die Zukunft in das «Hier und Jetzt»»; Gelassenheit, wo Empörung passend wäre; Nicht-Bewerten statt «Werte zu vertreten und Stellung zu beziehen»; «Steigerung des Programms der Selbstoptimierung in der paradoxen Form des Verzichts auf Optimierung.» (vgl. S. 14/15).

Selbstverliebtes Meditieren und «Achtsamkeit» auf die Schippe genommen (Foto aus Freepik)

Achtsamkeit umschreibt Huppertz als «die Kunst, einfach da zu sein» (S. 24) und erläutert auf den nächsten knapp 300 Seiten, was das bedeuten könnte, gibt Tipps und schlägt Übungen vor. Achtsamkeit ist aus seiner Sicht eine Haltung, die sich im Laufe der Zeit mit Geduld und Übung entwickeln lässt. Wer achtsam ist, hat ein waches Alltagsbewusstsein und fällt die bewusste Entscheidung, nicht blind seinen Gewohnheiten zu folgen. Er versucht absichtslos, gegenwärtig, offen, experimentell, akzeptierend und teilnehmend zu sein. Diese Eigenschaften der Achtsamkeit zeigen sich in Handlungssituationen und personenbezogen auf unterschiedliche Weise

Zudem gibt es nach Huppertz verschiedene Formen der Achtsamkeit. Sie kann fokussiert, weit, nach innen, nach aussen gerichtet sein oder relational in dem Sinne, dass das Interagieren zwischen Person und Um- und Mitwelt bedacht wird. Achtsamkeit kann beobachtend, begleitend, formell oder informell sein.

Achtsamkeit hat nicht nur im Buddhismus, wo im achtfachen Pfad von rechter Achtsamkeit gesprochen wird, sondern auch bei Huppertz eine ethische Dimension. Es geht also nicht darum, achtsam Banküberfälle zu machen, möglichst achtsam seine egoistischen Bestrebungen zu pflegen oder sich narzisstisch zu überhöhen. Huppertz sieht die Haltung der Achtsamkeit als wichtiges Element des westlichen ethischen Diskurses, welche moralische Aspekte von Situationen besser zu erkennen erlaubt.

Auf der Rückseite des Buches sind die Adressaten genannt. «Es ist für alle geschrieben, die Achtsamkeit verstehen und praktizieren wollen.» Das Buch scheint mir äusserst anregend für Personen, die seit Jahren durch eigene Meditationspraxis oder im Beruf mit achtsamkeitsbasierten Techniken arbeiten. Verengte Verständnisse, etwa eine bloss introspektive Praxis, werden durch die differenzierte Diskussion, aber auch durch Fragen und Texte am Rand der Seiten, die zu eigenen Überlegungen Anlass geben, erheblich ausgeweitet und bereichert. So gesehen ist das Buch Horizont erweiternd. Wer sich noch nie mit Achtsamkeit befasst hat, dem sei parallel zur Lektüre ein achtwöchiger MBSR- Kurs empfohlen, wie er auch in der Schweiz vielerorts angeboten wird. Oder man lässt sich auf einen Meditations- und Achtsamkeitskurs in einem Meditationszentrum ein. Empfehlenswert ist auch die Lektüre des oben bereits erwähnten Buches von Hupperts aus dem Jahre 2009, wo Achtsamkeit auf Vernunft, Spiritualität, Lebenskunst und Psychotherapie bezogen wird.

Texte und Links:

Michael Huppertz: Die Kunst da zu sein. Häufig, selten und nie gestellte Fragen zur Achtsamkeit. Frankfurt 2022. ISBN: 978-3-86321-555-2

Michael Huppertz: Achtsamkeit. Befreiung zur Gegenwart. Achtsamkeit, Spiritualität und Vernunft in Psychotherapie und Lebenskunst. Paderborn 2009. ISBN: 978-3-87387-727-6

Interessant ein Gespräch im Deutschlandfunk mit Michael Huppertz zur Frage: Macht uns Achtsamkeit zu besseren Menschen? Unter:
https://www.deutschlandfunk.de/audiothek?drsearch%3AsearchText=huppertz&drsearch%3Astations=4f8db02a-35ae-4b78-9cd0-86b177726ec0

Link zu YouTube: Video Body Scan Meditation | MBSR | Achtsamkeit & Entspannung:
https://www.youtube.com/watch?v=hBCqYmfje8o

Titelbild: Wer achtsam ist, hat ein waches Alltagsbewusstsein. Foto pixabay

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4 Kommentare

  1. Meine Güte, wieviele Bücher, Kurse, You Tube-Videos etc. zum Thema «Achtsamkeit» muss es denn noch geben? Man vermarktet mittlerweile dieses Thema wie verjüngende Kosmetika oder schlankmachende Diäten. Achtsamkeit, das der Buddhismus seit Jahrtausenden lehrt, ist keine Ware sondern eine Haltung dem Leben gegenüber, nicht mehr und nicht weniger und braucht keine neuen Erkenntnisse von medien- und geldgeilen Autoren und Selbstdarstellerinnen.

    • Liebe Frau Mosimann, besten Dank für Ihren kritischen Kommentar. Es ist nicht erstaunlich, dass in einer stressgeplagten Welt das Achtsamkeitskonzept im Westen wieder in Mode kommt. Der Auftritt von Kabat-Zinn am WEF 2015 in Davos ist durchaus ambivalent, je nachdem ob «Achtsamkeit» zur individuellen Burnout-Prophylaxe bei sinnvollen Aktivitäten praktiziert wird oder ob Manager darin ein Konzept erkennen, um ihre Mitarbeitenden noch mehr auszupressen, auch wenn das Unternehmen aus ökologischer Sicht problematisch ist.
      Buddhas Lehrrede von den «Grundlagen der Achtsamkeit» (Satipatthana Sutta) ist gut übersetzt und interpretiert von Bhikkhu Analayo, einem buddhistischen Mönch, der 1962 in Deutschland geboren wurde, 1995 in Sri Lanka in den Mönchsstand trat und zurzeit Professor am Zentrum für buddhistischen Studien an der Universität Hamburg ist. Hier der Link
      https://www.buddhismuskunde.uni-hamburg.de/pdf/5-personen/analayo/direkte-weg.pdf

      • Danke für Ihre ergänzenden Informationen, aber an einem Hochschul-Buddhismus war ich nie interessiert. In einer Lebenskrise in meinen Vierzigern suchte ich nach Sinn und anwendbare, praktische Hilfe. Da ist mir das Buch von Brenda Shoshanna, eine Psychologin und praktizierende Zen-Buddhistin, mit dem Titel «ZEN und die Kunst, sich zu verlieben» zugeflogen, wie meistens gerade diejenigen Bücher vor meinen Augen erscheinen, wenn ich sie brauche. Es ist ein vergnüglicher und praktikabler Ratgeber über die All-Liebe mit viel Insiderwissen über den Zen-Buddhismus.
        Die neuen Erkenntnisse und über Jahre praktizierte Zen-Meditation hat mein Bewusstsein erweitert und mein bisheriges Leben verändert; ich bin sehr dankbar für diese Erfahrung. Als wissbegierige Leserin habe ich natürlich auch Bücher und über den theoretischen Buddhismus gelesen, jedoch schnell wieder zur Seite gelegt.
        Wer Interesse an einem leichten und unverkrampften Einstieg in die Thematik sucht, dem empfehle ich auch das zauberhafte Buch von Ajahn Brahm «Die Kuh, die weinte», buddhistische Geschichten über den Weg zum Glück (Lotos-Verlag). Viel Vergnügen!

        • Besten Dank, Regula Mosimann, für den Einblick in Ihren Weg und für Ihre beiden Buchempfehlungen. Mögen alle ihren Weg der Befreiung aus dem Leiden finden.

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