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Über das Altwerden nachdenken

Wer bestimmt, ab wann man für bestimmte Dinge zu alt ist? Im Berner Theater an der Effingerstrasse erörtern eine alternde Frau und ein junger Mann diese und andere Fragen. Nach der Dernière wird das Stück «Späte Spiele» im Mai am Landestheater in Bregenz gezeigt.

Eine betagte Dame (Heidi Maria Glössner), ganz in Schwarz gekleidet, silbriges Haar, und ein jugendlicher Herr (Tobias Krüger), ebenfalls ganz in Schwarz, betreten die Bühne. Erinnerung an Bonnie und Clyde werden wach. Vertikale Leuchtstoffröhren, die im Lauf des Stücks diagonal oder horizontal gestellt werden, sorgen für spärliches Licht. Die Wände, der Boden, die kargen Möbel: Alles in  Schwarz. Klassische Klaviermusik erklingt.

Es beginnt ein Spiel, bei dem die Wahrnehmungen verschwimmen. Die beiden Figuren schlüpfen in wechselnde Rollen: Sie verkörpern Liebende, Grossmutter und Enkel, Patientin und Pfleger, Mutter und Sohn, Nachbarin, Nachbar, Bankräuberin, Kumpel, Freund, Sterbende. Poetische Dialoge lösen stürmische Diskurse ab. Man fragt sich: Geht es um reale oder fiktive Erlebnisse? Bilden sich die Protagonisten die Beschreibungen nur ein, oder haben sie diese tatsächlich erlebt?

Immer mehr Erinnerungen werden lebendig. Fasziniert schaut man den wechselnden Bildern zu, fragt sich, ob es einen Zusammenhang zwischen den einzelnen Szenen gibt. Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Handelt es sich um Wünsche, Träume, Herbeigesehntes? Je länger man überlegt, desto weniger ist klar. Plötzlich entdeckt man sich selbst und stellt ernüchtert fest: Nichts im Alter ist sicher. Das Stück «Späte Spiele» hat der Schweizer Dramatiker Gerhard Meister geschrieben, und Bastian Kabuth hat es in Koproduktion für die Theater in Bern und Bregenz inszeniert.

Jung bleiben wollen? Altern als Strafe?

«Noch ein Schritt, und noch einer. Dort drüben am Fenster steht der Sessel, in dem Sie so gerne Platz nehmen und hinausschauen», sagt der Pfleger zur Altersheim-Bewohnerin: «Ich bin nicht dement, sondern vollständig bei Sinnen», antwortet die Dame. Angst vor Demenz ist omnipräsent. In mosaikartigen Bildern reden die beiden Spielenden über das Altwerden. Ist es ein Ziel, immer jung zu bleiben? Ist es eine Strafe, alt und gebrechlich zu werden?

Neue Hobbies im Alter: «Womit bringe ich mich als Nächstes auf Trab?»

Bizarr wirkt die Szene, in welcher die betagte Dame von ihren Hobbies schwärmt:  Tanzen, Sprachkurse und Tauchen gehören dazu. «Womit bringe ich mich als Nächstes auf Trab? Warum als 80-Jährige nicht einmal einen Banküberfall durchführen?» überlegt die Frau. Das erbeutete Geld könnte man den Armen schenken. Ein Banküberfall als perfektes «Anti-Aging-Programm»? Der junge Mann macht die unternehmungslustige Seniorin darauf aufmerksam, dass immer weniger Bargeld im Umlauf ist und sie ihr «Programm» anpassen muss.

Tiefsinnig der Dialog zwischen der alternden Konzertpianistin und dem jungen Chopin-Interpreten. Er glaubt, er mache ihr mit dem Klavierspiel eine Freude. Sie will sein Talent fördern. Eigentlich wollen beide dasselbe, reden aber aneinander vorbei. Sie will nicht als hilfsbedürftige Alte behandelt werden, er möchte sie unterstützen, mit Musik unterhalten, ihr den tristen Alltag verschönern. Laufend verschieben sich die Machtverhältnisse zwischen den Spielenden.

Paraderolle für die Berner Bühnen-Diva

Die bekannte Schauspielerin spielt sich selbst.

Für Heidi Maria Glössner, die auch in dieser Produktion nicht zu altern scheint, wirkt die Paraderolle wie auf den Leib geschrieben. Die Szene, in der sie ihrem Erbschleicher-Sohn verkündet, sie sei unsterblich, ihr Arzt habe ihr soeben zu ihren Blutwerten gratuliert, nimmt man Glössner problemlos ab. Diese positiv-optimistische Haltung ist auch das Geheimnis des Erfolgs der am Effingertheater fast jeden Abend ausverkauften Uraufführung: Die Schweizer Schauspielerin spielt in dem Stück sich selbst. Das überwiegend betagte Publikum fühlt ihr und sich selbst begeistert nach.

Aus dem echten Leben gegriffen ist der «Enkeltrick»: Ein Mann ruft an, der Enkel der Frau benötige dringend 20 000 Franken. Beim Geldautomaten warte ein Polizist in Zivil, der das Geld in Empfang nehme und es dem Enkel zukommen lasse. Während einem zweiten Telefonanruf erfährt die reiche Dame, dass es sich um einen falschen Polizisten gehandelt hat. Nun komme die richtige Polizei vorbei. Um die Frau vor weiterem Schaden zu bewahren, werde das gesamte Vermögen beschlagnahmt. Doppelter Betrug? Was stimmt? Die Grossmutter ist verwirrt, das Publikum ahnt die Antwort. Alt werden ist nicht einfach.

Mann – Frau – Altersunterschied?

«Das Leben ist immer lebensgefährlich. Aber im Alter lässt sich diese Tatsache nicht mehr so gut verstecken wie in jungen Jahren,» sagt die Protagonistin. Ist es realistisch, wenn eine 120-Jährige einen 20-Jährigen heiratet? Allein der Gedanke wirkt nach westlicher Vorstellung absurd und wird sofort wieder verworfen. Umgekehrt scheint es nicht abwegig, wenn ein 120jähriger Greis eine 20jährige Braut heiratet. Um die Möglichkeit zu plausibilisieren, wird das Brautpaar in die Berge Afghanistans verpflanzt, wo in einem Taliban-Zelt eine rauschende Hochzeit stattfindet. Zurück in der Schweiz benötigt der hochaltrige Bräutigam dringend Sauerstoff.

«Ich sabere nicht, mein Hirn ist noch nicht verfault».

Dem Leugnen des Alters werden mehrere Szenen gewidmet. Offenbar haben Männer und Frauen mit dem Alter Mühe: «Ich sabere nicht, mein Hirn ist noch nicht verfault», hält die hinkende Betagte ihrem Pfleger entgegen und ergänzt trotzig: «Ich werde nie sterben, das ist ein schönes Gefühl.» Darauf wiederholt er die liebevolle Einladung: «Noch ein Schritt, und noch einer. Dort drüben am Fenster steht der Sessel, in dem Sie so gerne Platz nehmen und hinausschauen».

Die Patientin schweigt, lässt sich aber führen. Offenbar ist sie, so ein Gesetz des Lebens, doch noch dement geworden. «Mit einem reinen Gewissen sterben», lautet eine der Erkenntnisse des abwechslungsreichen Theaterabends.

Titelbild: «Das Leben ist immer lebensgefährlich. Aber im Alter lässt sich diese Tatsache nicht mehr so gut verstecken wie in jungen Jahren». Alle Fotos © Severin Nowacki

Link Theater an der Effingerstrasse

Bei der Uraufführung handelt es sich um eine Koproduktion des Effingertheaters mit dem Vorarlberger Landestheater.

Aufführungsdaten in Bregenz:
SA, 13.05.2023, 19.30 Uhr
FR, 19.05.2023, 19.30 Uhr
SO, 21.05.2023, 19.30 Uhr
DI, 23.05.2023, 19.30 Uhr
MI, 31.05.2023, 19.30 Uhr

Link Landestheater Vorarlberg

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3 Kommentare

  1. Ihre Schilderungen dieses Theaterstücks sind eindrücklich und nachvollziehbar. Ich kenne den Ort an der Effingerstrasse in Bern gut und schätze die Protagonistin Frau Glössner als vielfältige und authentische Schauspielerin. Sie ist der Beweis, dass man nie zu alt ist um Neues zu wagen und dass, ob jung oder alt, alle es verdienen ernst genommen zu werden, so wie sie sind.

    Ich wünschte mir, dass Theateraufführungen auch wieder zum Programm des Schweizer Fernsehens gehören würden. In den Anfängen der SRG gab es in den 60iger bis in die 80iger Jahre Life-Übertragungen aus heimischen Theatern und Fernsehspiele bekannter Romanschriftsteller, z.T. noch in schwarz-weiss gedreht. Es gab Aufzeichnungen von ausländischen Konzerten, klassisch, Jazz oder von bekannten Orchestern wie Mantovani oder Glenn Miller und es gab Ballettaufführungen berühmter Tanzensembles. Alles vorbei. Das Niveau bei SRF ist m.E. im Keller. Bei der SRG wird ja überall gespart, nur nicht beim Sport, der Mainstream-Musik, den für mich selten komischen Comidiens und den omnipräsenten immer gewalttätiger werdenden Krimis.
    Zum Glück gibts noch Alternativen bei ausländischen TV-Sendern oder eben ab und zu ein persönlicher Besuch eines guten Theaterstückes oder Konzertes.

    • Werte Frau Mosimann
      Besten Dank für ihre wertvollen Kommentare. Sie schreiben so interessant und spannend, dass sich unsere Leserinnen und Leser zu fragen beginnen: Wer ist diese eloquente, belesene, weltoffene Frau?
      Schade, waren Sie im ersten Anlauf nicht für ein Porträt bereit. Vielleicht klappt es ja im zweiten? Wir würden uns freuen.
      Freundliche Grüsse
      Peter Schibli
      Redaktion Seniorweb

      • Ihre Resonanz auf meine Schreiberei freut mich, sie ist jedoch nicht meine Triebfeder. Im Gegenteil, ich muss das Kompliment an Seniorweb zurückgeben. Die vielfältigen und gutgeschriebenen Texte inspirieren mich immer wieder, ja zwingen mich öfters geradezu, mir meine eigenen Überlegungen zu einem Thema, das mich anspricht, nieder zu schreiben. Dabei habe ich auch die Hoffnung, dass noch viele andere Leser*inner Gluscht bekommen, auch ihre Sicht der Dinge mitzuteilen und den Seniorwebschaffenden damit ein Feedback für ihre wertvolle Arbeit und Mühe zu geben, auch wenn diese einmal kritisch ausfallen sollte. Einfach gesagt, das was ich schreibe bin ich und mehr gibt es öffentlich nicht zu sagen. Herzlichen Dank und freundliche Grüsse ans Team.

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