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Zu Besuch bei Jean Ziegler

Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir politisierten ihn in Paris. Dann war der Sozialdemokrat jahrelang das «enfant terrible» der Schweizer Politik. Auch mit 88 Jahren schweigt Jean Ziegler nicht. Ist er ein Idealist oder ein Moralist?

Zusammen mit seiner Frau Erica Deuber-Ziegler lebt der pensionierte Soziologieprofessor und langjährige Menschenrechtsexperte der UNO in Russin, einem Weinbauerndorf an der französischen Grenze. Vom Balkon seines Hauses aus, das nur fünfzehn Zugminuten von Genf entfernt liegt, sieht man bis zum höchsten Berg Europas, dem Mont Blanc. Jean Ziegler hat sprichwörtlich Weitblick.

Hier in Russin schreibt er seine Bücher. Das Obergeschoss erinnert an ein riesiges Atelier. Ein alter Schreibtisch, tausende Bücher an den Wänden, auf Tischen und Stühlen stapelweise Akten und Notizen, dazwischen ein offener Schrank. Auf dem Pult steht die elektrische Schreibmaschine, die ihm sein verstorbener Freund, der französische Soziologe Pierre Bourdieu, vermacht hat.

Jean Ziegler am “Salon du Livre” 2011 in Genf. Foto: Rama Wikimedia Commons

Heute schreibt Ziegler seine Texte von Hand und lässt diese anschliessend von einer Sekretärin in den Computer tippen. Mehrere Assistenten liefern ihm Recherchematerial. Das erste Lektorat der Manuskripte übernimmt seine Frau. In den vergangenen fünfzig Jahren hat der Bankenkritiker über dreissig Bücher geschrieben, übersetzt in alle möglichen Sprachen, millionenfach verkauft. 1999 heiratete Ziegler seine langjährige Partnerin Erica Deuber. «Und noch heute bin ich unsterblich in Erica verliebt,» sagt er lachend. Aus einer früheren Ehe mit der ägyptischen Soziologin Wedad Zeniew stammt Sohn Dominique, ein international bekannter Autor und Theaterregisseur.

Bürgerliches Elternhaus

In ein bürgerliches Umfeld geboren, erlebte Hans Ziegler eine glückliche, aber sehr spiessige Kindheit, wie er selber bemerkt. In seiner Jugend machte er als Hauptmann beim Thuner Kadettenkorps mit und politisierte im Jugendparlament für die BGB (heutige SVP). Erschüttert vom Anblick geschundener Verdingkinder, durchlebte er als Gymnasiast eine «dramatische Pubertät», eine «Revolte mit unglaublicher Heftigkeit». «Wenn mir Armut begegnete, war ich fassungslos.» Ende der fünfziger Jahre wandte er sich dem Sozialismus zu und eckte damit in der eigenen Familie an.

Sein Verhältnis zu Mutter und Vater, dem Thuner Gerichtspräsidenten und Artillerieoberst, war nicht einfach. Verstehen konnte der Vater seinen Sohn erst im Erwachsenenalter, als Jean 1991 wegen der Veröffentlichung seines umstrittenen Buchs «Die Schweiz über jeden Verdacht erhaben» international in die Schlagzeilen geriet: Trotz der ideologischen Differenzen hielt der Vater zu ihm. «Heute bin ich sicher, dass seine Haltung tiefer Vaterliebe entsprang.» Eng verbunden bleibt Jean Ziegler mit seiner Schwester Barbara, die in Thun wohnt und seine Arbeit kritisch verfolgt.

Akademische Laufbahn

Jean Ziegler 1971 Foto: ETH-BIB Comet Photo AG Wikipedia

Ziegler studierte in Bern sowie Genf zuerst Recht, anschliessend in New York Soziologie. In den ersten Studienjahren war er – wie sein Grossvater und Vater – kurze Zeit Mitglied der konservativen Studentenverbindung «Zofingia», die ihm, dem linken Polemisierer, im Jahr 2020 in einer Festschrift einen speziellen Artikel widmete. Seine akademische Karriere begann der junge Querdenker 1967 als Privatdozent für Soziologie in Bern. Nach einem Wechsel an die Universität Genf lehrte er bis zu seiner Emeritierung im Mai 2002 als ordentlicher Professor für Soziologie und als ständiger Gastprofessor an der Sorbonne in Paris.

SP-Nationalrat aus Genf

Von 1967 bis zu seiner Abwahl 1983 und erneut von 1987 bis 1999 gehörte er als Genfer Sozialdemokrat dem Nationalrat an. Von 2000 bis 2008 war er UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung sowie Mitglied der UNO-Task Force für humanitäre Hilfe im Irak. 2008 bis 2012 war Ziegler Vizepräsident des Beratenden Ausschuss des Menschenrechtsrats. Im September 2013 wurde er – gegen erbitterten Widerstand aus den USA – erneut in dieses Gremium gewählt. Noch heute reist er regelmässig nach New York an Sitzungen der UNO-Gremien. Seine letzte Reise Anfang Juni wurde verschoben, soll aber bald nachgeholt werden.

1991 als Nationalrat: Foto Walter Rutishauser, Bibliothek am Guisanplatz

Ziegler beschäftigt vor allem das «tägliche Massaker des Hungers in der Welt». Seit Jahrzehnten ist er einer der bekanntesten Kapitalismus- und Globalisierungskritiker.  Nach seiner Überzeugung sind die Grossbanken und Finanzoligarchen «mitverantwortlich für die kannibalische Weltordnung und für die himmelschreiende Ungleichheit unter den Völkern». Zudem geisselt er grosse transnationale Konzerne für deren Profitmaximierung und Missachtung der Menschenrechte. Wieder anderen Unternehmen wirft er eine systematische Missachtung des Umweltschutzes und Mitverantwortung am Welthunger vor.

Prozessflut mit Folgen

Die Namensnennung von kritisierten Unternehmen und natürlichen Personen in seinen Büchern hatte Folgen: Nach langen Diskussionen hoben die eidgenössischen Räte Zieglers Immunität 1991 auf. Der streitbare Politiker wurde daraufhin mehrfach wegen Ehrverletzung, Beleidigung, Ruf- und Kreditschädigung verklagt und konnte vor Gericht seine Behauptungen nicht alle belegen, weil verschiedene vorgeladene Zeugen nicht mehr aussagen wollten. Zu den Klägern gehörten namhafte Unternehmen, aber auch der Genfer Privatbankier Edmond Safra, der Immobilien- und Rohstoffhändler Nessim Gaon, Bundesratsgatte Hans W. Kopp und andere. Ein Winterthurer Metzger schickte Ziegler gar einen Strick mit der Aufforderung, sich aufzuhängen.

Zeitweise musste die Familie Polizeischutz in Anspruch nehmen. Die Folgen der Prozesswelle waren einschneidend. Der aufmüpfige Soziologieprofessor wurde in mehreren international beachteten Prozessen in Frankreich, Deutschland, Österreich und in der Schweiz zu hohen Schadenersatzsummen verurteilt. Sein Einkommen wurde gepfändet, sein Vermögen schmolz dahin. Das Haus gehört mittlerweile seiner Frau. In den Medien erschienen wenig schmeichelhafte Berichte über den Verurteilten.

Meinungsäusserungsfreiheit gilt für alle

Zum Glück gab es auch Parteigenossen, die zu ihm hielten: Helmut Hubacher, Doyen der Schweizer Sozialdemokraten, meinte: «Wir haben uns grauenhaft über ihn aufgeregt. Aber entweder gilt die Meinungsäusserungsfreiheit integral, dann gilt sie auch für Jean Ziegler. Oder dann beginnen wir selektiv zu entscheiden, wer allenfalls für gewisse unbequeme Aussagen vor den Richter soll und wer nicht».

Nach eigenen Angaben sein wichtigstes Buch: «Der schmale Grat der Hoffnung» (Bertelsmann 2017).

Der Gedanke an seinen eigenen Tod beschäftigt den 88-Jährigen. Ziegler glaubt an die Auferstehung: «Ich glaube, dass die Einzigartigkeit jeder Person über den Tod hinaus besteht. Wenn wir sterben, stirbt das Bewusstsein nicht», sagte er.  Im Alter kürzer zu treten, ist für den Intellektuellen keine Option: Auf die Frage, wie lange er noch gegen Hunger und Armut kämpfen wolle, zitiert er den Schriftsteller Victor Hugo: «Ich will lebend sterben.» Und ergänzt:  «Solange es mich in der heutigen Form gibt, will ich weiterkämpfen für die Opfer dieser absurden, kannibalischen Weltordnung.»

Verbittert wirkt Ziegler nicht, im Gegenteil, er strahlt Dankbarkeit aus: «Wir sind unglaublich privilegiert, Schweizer, weiss, gut genährt und geschützt vor Not und Unterdrückung.» Der oft auf ihn bezogene Begriff «Kommunist» sei für ihn eine Ehre. «Für jeden nach seinen Fähigkeiten, für jeden nach seinen Bedürfnissen», steht im kommunistischen Manifest. So wie er es versteht, habe es noch nirgendwo auf der Welt Kommunismus gegeben. «Dieser ist der Horizont unserer Geschichte.» Ziegler versteht sich selbst «weder als Idealist noch als Moralist». Treffender wären da wohl die Beschreibungen «politischer Realist» und «unermüdlicher Mahner in Sachen Gerechtigkeit».

Titelbild: Jean Ziegler in seinem Büro vor einem Bild von Che Guevara, den er in jungen Jahren in Genf herumchauffierte. Der Revolutionär beeinflusste den Schweizer mit seiner Strategie der subversiven Integration. Foto: Alamy.

Hinweis

Dieser Artikel ist in einer ausführlicheren Version im kürzlich erschienen Buch «650 Jahre Gesellschaft zu Schuhmachern Bern» erschienen. Jean Ziegler ist Mitglied dieser Berner Zunft. Einen Widerspruch zwischen seiner linken Haltung und der Zugehörigkeit zu der konservativen Burgergemeinde sieht der Bankenkritiker nicht. Zünfte sind nach seiner Aussage «sinnvolle Organisationen, die eine evidente, höchst nützliche soziale Rolle spielen: Sie stiften Identität».

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2 Kommentare

  1. Noch ein kleiner Nachtrag: Jean (damals noch Hans) bewarb sich seinerzeit als Instruktionsoffizier (sic), was abgelehnt wurde. Das mag der Grund für seine fast unglaubliche politische Wende gewesen sein.

  2. Ich hatte immer den Eindruck, er sei persönlich frustriert und müsse sich an der „Gesellschaft“ rächen. Auf jeden Fall hat man ihm eindeutig nachgewiesen, dass seine Behauptungen über gewisse Ereignisse erfunden waren.

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