StartseiteMagazinKulturWie einer den Alltag zu Literatur macht

Wie einer den Alltag zu Literatur macht

Hansjörg Schneiders «Spatzen am Brunnen. Aus dem Tagebuch» ist eine wundersame Mixtur aus Alltag und Kunst, Philosophie und Literatur. Eine grossartige Lektüre.

Wie in den Kriminalromanen mit Kommissär Hunkeler, mit denen Hansjörg Schneider ein würdiger Nachkomme von Georges Simenon ist, gelingt es ihm auch in den Tagebucheinträgen mit knappen Worten auf engstem Raum eine Atmosphäre zu schaffen, so dass man meint, mit ihm am Brunnen in der Mittleren Strasse zu sitzen und zuzusehen, wie er die Spatzen mit Brosamen seines Croissants füttert.

Den gefiederten Titelhelden begegnet Schneider, der regelmässig seine Gänge von der Wohnung aus unternimmt, immer wieder. Während des Lockdown, als alle Gasthäuser geschlossen waren, hat er sein Frühstück beim Bäcker geholt und sich mit Kaffeebecher und Parisergipfel auf eine Bank bei dem Brunnen gesetzt. Die Spatzen werden seine Gesellschafter, mit ihnen kann er auch sprechen.

Spatzen-Sitzung. Foto: Susanne Jutzeler pixabay

Die Geschichte der allerersten Begegnung erfahren wir im letzten Viertel des Tagebuchs, doch die Spatzen sind eine Art Running Gag, verbinden die Rast am Brunnen oder auf dem Petersplatz oder im Kannenfeldpark mit der Erinnerung an Ereignisse und Menschen während eines langen Lebens.

Viele dieser Erinnerungen haben altersbedingt mit dem Tod zu tun, oder mit Altersdemenz: Immer wieder muss der 85jährige, vom Ableben eines langjährigen Bekannten erfahren, und der Todestag seiner Frau bringt ihn auch nach Jahrzehnten in eine depressive Verfassung. Einige Freunde leben zwar noch, aber mit ihnen kann er nicht mehr kommunizieren. So bleibt die Erinnerung an gemeinsame Bergtouren, an Projekte für die Bühne.

Der Brunnen an der Mittleren Strasse. Foto: Dani (Sammlung Brunnen in Basel)

Ebensowenig fremd ist ihm die eigene Sterblichkeit, trotz Altersgebresten und Operationen mit Vollnarkose gibt er nicht auf. Er leidet, als er eine zeitlang nicht schreiben kann, denn er weiss, schreiben heisst am Leben bleiben: «Ohne meine Schreiberei langweile ich mich zu Tode. In meiner Todesanzeige wäre dann zu lesen: ‹Er ist aus lauter Langeweile gestorben›. Was eigentlich keine schlechte Todesanzeige wäre.»

Obwohl viele seiner gestorbenen Freunde und Weggenossinnen viel Raum im Kopf und im Tagebuch beanspruchen, ist Spatzen am Brunnen kein trauriges oder deprimierendes Buch. Im Gegenteil: Es steckt voller Lebenswille, Empathie und Freude an schönen Dingen, an die sich ein alter Mann gern erinnert, etwa «an die schönen lieben Mädchen, mit denen er in jungen Jahren zusammen war.»

«Das hat mich gefreut,» ist fast ein Standardsatz am Schluss der einen oder anderen kurzen Geschichte. Ab und zu macht der Schriftsteller und Theaterautor aber auch seinem Ärger über eine Ungerechtigkeit oder eine mit Arroganz verbundene Ignoranz Luft.

Etwa wenn es um den Film Der Erfinder von Kurt Gloor geht, der auf Schneiders Drama fusst, was jedoch bei der Filmpremiere damals schlicht unterschlagen wurde. Oder wenn eine TV-Literaturrunde offensichtlich nichts mit Leta Semadenis Buch Amur, grosser Fluss anfangen kann oder auch wenn er bei den Literaturtagen eine Moderatorin zugesellt bekommt, die offensichtlich nichts von ihm gelesen hat ausser dem Buch, das sie vorstellen soll.

Der Flyer vom Landschaftstheater auf dem Ballenberg 1993: Katharina Knie.

Aber mehrheitlich strahlen die Erinnerungen an die guten Zeiten und Glücksfälle als Literat, Dramatiker und Drehbuchschreiber in das Dasein des alten Autors herein, dessen Kreise notgedrungen enger werden. Die Befreiung aus der Enge des Vaterhauses in Paris, die grosse Lebensliebe Astrid, dank der er Künstler werden konnte und nicht als Gymnasiallehrer verdingt ein standesgemässes Einkommen besorgen musste, die unkomplizierte Aufnahme am Basler Theater, die Erinnerungen an die Landschaftstheater mit ihren engagierten und begabten Laiendarstellern und nicht zuletzt der auch materielle Erfolg, den ihm sein alter Ego Peter Hunkeler bescherte.

In dem schmalen Büchlein hat fast die ganze Weltgeschichte Platz – Aktuelles vor dem Fernsehen oder, zurückliegend, die Studentenunruhen in Paris, die er mit einem journalistischen Auftrag miterlebte, der zweite Weltkrieg in der Kindheit als Randerscheinung und die Judenverfolgung.

Hansjörg Schneider, flankiert von Dekan Walter Leimgruber und der Uni-Rektorin Andrea Schenker-Wicki beim Dies Academicus 2018 an der Universität Basel: Feier der Ehrendoktorwürde. Bild: Universität Basel, Christian Flierl

Schneider erinnert an die Weigerung von Polizeidirektor Fritz Brechbühl, der 1939 den Befehl der eidgenössischen Fremdenpolizei widerstand, die jüdischen Flüchtlinge ins Deutsche Reich auszuschaffen. Aber auch an das schreckliche Pogrom, das in der gleichen Stadt im Mittelalter das Ende der jüdischen Bewohner war. Der zerstörte Friedhof lag da, wo die Studenten – Schneider war dabei – in den 60er Jahren im Uni-Café stundenlang debattierten. Doch regelmässig geht er an der Galerie eines noch viel Älteren vorbei, der Auschwitz überlebt hat und seit Jahrzehnten zufrieden in Basel lebt.

Im Kannenfeldpark freut sich der Autor an den kleinen Kindern mit ihrer unbändigen Energie. © Stadtgärtnerei Basel, Foto Bea Musy

Das ist wohl das ganz Spezielle an diesem Tagebuch: Das Schreckliche bleibt nicht stehen und vergiftet das Leben im Jetzt, trotzdem darf man es nicht akzeptieren. Den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine kann ein wacher Geist nicht ausklammern, seine Reaktion auf das erste Bombardement von Lemberg ist der Rückzug aufs Bett mit dem Buch Zimtläden von Bruno Schulz, einem der fast vergessenen grossen Autoren Galiziens.

Buchcover mit Quitten-Gemälde von Robert Kushner

Eins der schönsten Bücher dieses Sommers ist dieses Tagebuch. Unprätentiös und in einer elegant einfachen Sprache, raffiniert in der Wortwahl und voller Empathie für alle, die dem Autor begegnen, sei es der Mann, der ihm im Tankstellenshop den Kaffeebecher füllt, sei es einer der grossen Dichter wie Gottfried Keller oder Friedrich Dürrenmatt: Was geschieht, was er beobachtet und erinnert, löst Gedanken aus, Philosophisches, Lektüren.

Er sagt ja selbst, Theaterrezensionen seien ok, aber man möge nicht über seine Bücher schreiben, sondern sie lesen. Das unterstreiche ich! Zwar kenne ich die Hunkeler-Krimis (die Texte, nicht die Filme sind gemeint) und andere Bücher von Hansjörg Schneider, aber seit der Tagebuchlektüre, habe ich immer wieder beim Buchstaben S ins Bücherregal gegriffen.)

Titelbild: Hansjörg Schneider. © Schweizerisches Sozialarchiv, Foto Claude Giger

Hansjörg Schneider: Spatzen am Brunnen. Aus dem Tagebuch. Verlag Diogenes Zürich 2023. ISBN 978-3-257-07241-9
Hier geht es zu den bei Diogenes erhältlichen Büchern von Hansjörg Schneider.

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