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Entdecken und Wiedersehen

Das Kunstmuseum Bern zeigt in seiner aktuellen Ausstellung «Anekdoten des Schicksals», dass Werke wenig bekannter Künstlerinnen und Bilder berühmter Künstler einen neuen Blick verdienen.

Ein Kunstmuseum mit einer langen Tradition – dasjenige in Bern gehört zu den ältesten der Schweiz – verfügt über eine entsprechend umfangreiche Sammlung. Dazu gehören viele Werke, die bisher selten und gar nicht ausgestellt wurden, und Künstlerinnen, vor allem Frauen, die nie oder nur wenig Anerkennung gefunden haben.

Daraus eine Ausstellung zusammenzustellen, die uns Besucherinnen und Besucher überrascht und ungeahnte Beziehungen sichtbar macht, war das Ziel von Sammlungskuratorin Marta Dziewańska. Sie lädt uns ein, Werke bekannter und unbekannter Künstlerinnen und Künstler nebeneinander neu zu entdecken. «Schauen Sie ein Bild nicht nur in seinem Rahmen an, schauen Sie, welche Resonanz es in seiner Umgebung findet», rät uns Dziewańska. Dabei erkennen wir, dass die Bilder Geschichten erzählen – Anekdoten des Schicksals – und dass sie in einem dynamischen Feld miteinander verbunden sind. Um den literarischen Aspekt zu verstärken, wurden fünf in der Schweiz lebende Autorinnen und Autoren eingeladen, aus ihrer Sicht literarische Aperçus beizufügen, die wir in der Ausstellung lesen bzw. hören können.

Da ist unten im Foyer ein Selbstbildnis von Albert Anker, dessen eindringlicher Blick uns zu mustern scheint. Dies ein weiterer Hinweis auf den roten Faden der Ausstellung: sich vom altvertrauten Anschauen und Wiedererkennen zu lösen, sich Neuem zu öffnen. Oder im Foyer oben: Ernst Ludwig Kirchners «Alpsonntag» stellt die Unterhaltung der Älpler – und damit das Thema Gespräch – aufs Schönste dar.

Ernst Ludwig Kirchner (1880-1938): Alpsonntag, Szene am Brunnen. Um 1929. Öl auf Leinwand mit gefasstem Originalrahmen. Kunstmuseum Bern (Foto mp)

Davon spricht auch eine der eingeladenen Schriftstellerinnen: Melinda Nadj Abondji. Sie ist überzeugt davon, dass Literatur einen Standpunkt haben muss, von dem aus sich der Blick auf den darzustellenden Gegenstand richtet. – Neben Ankers Selbstportrait hängt Am Seziertisch, ein Gemälde von Annie Stebler-Hopf, eindrucksvoll die Konzentration und Anspannung des Professors.

Annie Stebler-Hopf (1861–1918): Am Seziertisch (Professor Poirier, Paris), um 1889. Öl auf Leinwand Kunstmuseum Bern Geschenk des Gatten aus dem Nachlass der Künstlerin

Eine andere Aussage lässt sich aus Félix Valloton berühmt gewordenem Gemälde herauslesen: Die beiden Frauen, die weisse und die schwarze, fordern nicht nur durch ihre Hautfarbe, sondern auch durch ihre Haltung zum Gespräch und zum Nachdenken heraus.

Félix Valloton (1865-1925): La Blanche et la Noire. Öl auf Leinwand. Kunstmuseum Bern. Dauerleihgabe der Hahnloser / Jaeggli Stiftung (Foto mp)

Die Qualität einer Sammlung besteht nicht darin, nur Meisterwerke zu besitzen, sondern Werke, die gewisse Epochen dokumentieren. Eine Ausstellung wie diese will keine Anhäufung von brillanten Werken sein, die sich gegenseitig überstrahlen, sondern neue Beziehungsfäden spinnen, zu neuen Ideen anregen.

Links:  Umkreis Gertrud Dübi-Müller. Gertrud Müller sitzt Modell in Ferdinand Hodlers Ateliergarten in Genf, um 1916. Schwarzweiss-Fotografie auf Papier [Silbergelatine-Barytpapier], Neuabzug Paul Steinmann  Blatt 23,6 x 25,5 cm, Bild 20 x 21,8 cm. Kunstmuseum Bern
Rechts:  Ferdinand Hodler (1853–1918): Bildnis Gertrud Müller im Garten [Detail], um 1916. Öl auf textilem Träger Kunstmuseum Bern, Legat Lina-Emilie Hodler-Ruch

Museumsdirektorin Nina Zimmer hatte betont, dass Museen nicht einfach das Bestehende pflegen und reproduzieren dürften. Das Kunstmuseum Bern besitzt eine der wichtigsten Sammlungen Schweizer Kunst, nicht nur der Werke von Ferdinand Hodler. Das kann jedoch kein Kanon sein, sondern eine Aufforderung, in Bewegung zu bleiben. Die Ausstellung zeigt dazu grosse Projektionen, die Hodler bei der Arbeit zeigen sowie Gertrud Dübi-Müller, die Solothurner Mäzenin und Freundin, als Person und ihr Portrait.

Marcello (1836 – 1879): Autoportrait ADELE COLONNA fe Roma, 1858. Büste, Gipsabguss. Fondation Marcello, Fribourg. (Foto mp)

Bei ihrer Auswahl entschied sich die Kuratorin häufig für Bilder, auf denen Personen dargestellt sind, die sich gut zum Erzählen eignen – und häufig sind es Werke von Malerinnen, die vergessen wurden. Dziewańska ist überzeugt, dass Künstlerinnen andere Fragestellungen haben als Männer. Aber jahrhundertelang wurde die Schaffensberechtigung der Künstlerinnen in Zweifel gezogen, von den Männern und infolgedessen auch von den Frauen selbst. Die Bildhauerin Marcello, aus der Freiburger Patrizierfamilie d’Affry stammend, konnte erst in der Fremde, in Italien, ihre Kunst verwirklichen, und indem sie ihr Frausein hinter einem männlichen Pseudonym versteckte.

«Geschichten» , genauer: Erzählen als Motto für diese Ausstellung zu wählen, geschah aufgrund einer Äusserung von Hannah Arendt. «Das Geschichtenerzählen», schrieb diese, «enthüllt den Sinn, ohne den Fehler zu begehen, ihn zu benennen». Dabei sei eine Erzählung nicht reine Fantasie, sondern wiederhole die Vergangenheit in neuer, individueller Form. Dadurch enthüllt sie unbeachtete Aspekte der Vergangenheit, umgestaltet und neu verstanden.

Bei Künstlerinnen entdeckt Dziewańska besonders grossen Respekt und Verständnis für die Natur. Solchen Darstellungen räumt sie einen besonderen Platz ein. Neben vielen anderen sind die wunderschönen präzisen Zeichnungen der Maria Sibylla Merian dafür ein Beispiel. Die Genoveva von Meret Oppenheim schwebt, der Erde enthoben, in einem surrealistischen Raum.

Meret Oppenheim (1913 − 1985): Das Leiden der Genoveva, 1939. Öl auf Leinwand. Kunstmuseum Bern Legat Meret Oppenheim  © 2023, ProLitteris, Zürich

Eine andere wichtige Frage taucht angesichts der Selbstportraits auf: Kann die Kunst als Weg dienen, sich aus den Zwängen der Gesellschaft, aus den Verstrickungen der Zeit zum eigenen Selbst zu befreien.

Die Ausstellung präsentiert Werke von fast achtzig Künstlerinnen und Künstlern, unter anderem von Annie Stebler-Hopf, Marie-Louise-Catherine Breslau, Ferdinand Hodler, Max Buri, Albert Anker, Irène Zurkinden, Meret Oppenheim, Alice Bailly, Adolf Wölfli. Der Titel entstammt einer Erzählsammlung Anecdotes of Destiny (1958) der dänischen Autorin Isak Dinesen, die als Tania Blixen («Jenseits von Afrika») bekannt geworden ist. Isak Dinesen schreibt über Figuren, die es zumeist schaffen, sich aus Notlagen zu befreien. Sie entwickeln sich zu starken Menschen, indem sie ihr Elend durch Erzählen überwinden.

Kunstmuseum Bern: Anekdoten des Schicksals. Bis 7. Januar 2024
Es finden zahlreiche spezielle Führungen statt. Beachten Sie die Webseite.

Titelbild: Frank Buchser (1828–1890) Flutumfangen, 1876. Öl auf Leinwand Kunstmuseum Bern, Bernische Kunstgesellschaft

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1 Kommentar

  1. Es macht mich glücklich und irgendwie auch stolz, dass nach und nach die von Frauen in der Vergangenheit geschaffenen Kunstwerke, welche auch immer, endlich ans Licht kommen dürfen und ernst genommen und gewürdigt werden. Dabei frag(t)e ich mich immer, wie muss es sich anfühlen als Mann, mit dem Makel Jahrhunderte langer Unterdrückung des Weiblichen, nicht nur in der Kunst, zu leben.

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