Mit «oui non si no yes no» zeigt das Kunstmuseum Bern die wichtigsten dreidimensionalen und mobilen Arbeiten des 2020 verstorbenen Berner Künstlers Markus Raetz. Die erste posthume Retrospektive ist eines der ganz grossen, kulturellen Highlights der Bundesstadt in diesem Jahr.
Mit seinen verspielten Werken gehörte Raetz zu den wichtigsten Vertretern der Schweizer Gegenwartskunst. Seine Arbeiten kreisen stets um das Thema der visuellen Wahrnehmung und deren Darstellbarkeit. Geheimnisse seines Erfolgs sind Einfachheit, Originalität, feine Ironie und Imagination. Im Lauf seines langjährigen Schaffens nutzte er verschiedenste Kunstformen wie beispielsweise Druckgrafik, Foto Art, Installation, Konzeptkunst, Malerei, Objektkunst, Plakat, Radierung, Skulptur, Zeichnungen.
Die neuste Berner Ausstellung, die ein ungewöhnlich breites Publikum und alle Generationen ansprechen dürfte, widmet sich seinem plastischen Schaffen. Ideen für die Schau entstanden bereits zu Lebzeiten des Künstlers. Selbst Präferenzen für die Museumsräume äusserte er. So erstreckt sich die Ausstellung über die grossen Säle im ersten sowie zweiten Stock und belegt auch mehrere Nebenräume. Die Retrospektive erlaubt einen spezifischen Blick auf sein Gesamtwerk. Sie ist in thematische Gruppen unterteilt und ermöglicht zahlreiche Querbezüge, unter anderem die Entwicklung des Künstlers von der Skizze zur Skulptur und zum Mobile.
Historisches Foto: Markus Raetz vor «Zeemansblik», in einer Ausstellung im Aargauer Kunsthaus. © Foto: René und Elisabeth Bühler 2005 © ProLitteris, Zürich
Raetz begann seine Karriere in den sechziger Jahren im Medium der Zeichnung. Sie sollte das Fundament bleiben für seinen künstlerischen Gedankenprozess. 2007 sagte er in einem Interview: «In jedem Fall ist Zeichnen fast immer der erste Schritt – auch bei den Skulpturen. Was zu ihnen führt, führt über die Zeichnung.»
In den siebziger Jahren fand er zu einer charakteristischen Arbeitsweise, um seine zeichnerischen Elemente in den Raum zu übersetzen. In ausgestellten Notizbüchern und frühen Installationen werden Motive sichtbar, die sich in Raetz’ dreidimensionalen Objekten wiedererkennen lassen. So wird nicht nur die zentrale Rolle der Zeichnung als Ideenspeicher, sondern auch als Werkzeug zur Raumvorstellung erkennbar. Die Ausstellung wurde kuratiert von Stephan Kunz, künstlerischer Direktor des Bündner Kunstmuseums in Chur, zusammen mit der kuratorischen Assistentin Livia Wermuth. Grosse Unterstützung kam auch von der Frau des Künstlers, Monika Raetz, welche die Ausstellung von Beginn bis zur Vernissage begleitete.
Metamorphosen überall
Das Thema der Metamorphose bestimmte Raetz’ dreidimensionales Werk ab den späten achziger Jahren. Die künstlerische Idee ist immer dieselbe: Das Motiv verwandelt sich bei der Metamorphose in eine völlig andere Gestalt. Bei diesen ausgeklügelten und humorvollen Objekten handelt es sich oft um Plastiken auf einem extra dafür vorgesehenen Sockel. Sie sind so konzipiert, dass sie von jedem Standpunkt aus andere Bilder zeigen und sich erst im Rundgang um das Werk vollständig erschliessen.
«Madame et Monsieur» ist eine aus Draht geformte, auf einem Sockel stehende Skulptur eines Paars. Die Zukunft erahnend, formte Raetz die Figuren so, dass diese das Geschlecht wechseln. Beim Gang rund um die Skulptur verwandelt sich der Monsieur in eine Madame und umgekehrt.
Unter den wiederkehrenden Motiven aus dem Repertoire findet sich etwa die Figur «Mimi»: Die aus einer Skizze weiterentwickelte Plastik besteht aus 14 schweren Hölzern. Es ist eine archaisch anmutende, aber auch verletzlich wirkende Gestalt.
«Drehungen» (1982) © Foto: René und Elisabeth Bühler 2023 © ProLitteris, Zürich
Eine Besonderheit der metamorphischen Objekte bilden Wortplastiken, die jeweils zwei gegensätzliche Bedeutungen in sich vereinen. Die berühmten OUINON-Skulpturen gaben der Ausstellung ihren Titel.
Eine spezielle Bedeutung hat die Wandskulptur «Eva». Sie besteht aus drei Ulmenzweigen, die Raetz in Amsterdam vom Boden auflas und zu einem weiblichen Unterleib formte. So entstand aus drei zufällig aufgelesenen Ästen der “Ursprung der Welt”.
Ein in einem Bilderrahmen angewinkelter Draht sticht wegen seiner Einfachheit ins Auge. Beim näheren Betrachten entdeckt man den Niesen, den Ferdinand Hodler in verschiedensten Varianten von Thun aus malte.
Wertschätzung von Kollegen
Die Assoziation mit Werken anderer Künstler war für Raetz wichtig. Mit sieben an Fäden hängenden Zweigen imitierte er Hodlers Bild «Eurythmie». Die Zugluft der Klimaanlage im Berner Hodlersaal sorgt dafür, dass die Figuren stetig in Bewegung bleiben. Die Nähe zu Hodlers Werk besteht in der Parallelität der Figuren.
Kurator Stefan Kunz erklärt die «Sieben Konturen» (1995-1997). © Foto: René und Elisabeth Bühler 2023 © ProLitteris, Zürich
Im «Chambre de Lecture» (Lesezimmer) schauen 432 aus Draht gefertigte Silhouetten von bekannten Gesichtern von den Wänden. Jedes Spiralprofil hat einen eigenen Gesichtsausdruck. Wie Mobiles drehen sie sich um die eigene Achse. Als Zuschauer glaubt man, Friedrich Dürrenmatt, Max Frisch, Robert Walser und andere Schriftsteller zu erkennen. In dem Raum scheint die Zeit still zu stehen.
Das Werk «Hasenspiegel» besteht aus einem Hasen aus feinem Kupferdraht und einem Spiegel. Wenn man den Hasen umkreist, verwandelt er sich in einen Mann mit Hut. Auch dessen Spiegelbild wandelt sich. Gemeint ist nicht irgendein Mann, sondern der Künstler Joseph Beuys. Markus Raetz spielt mit dem Werk auf dessen Kunst-Aktion «Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt» aus dem Jahr 1965 an.
«Das Bullauge» (2007-2011) © Foto: René und Elisabeth Bühler 2023 © ProLitteris, Zürich
Das Werk «Das Bullauge oder: D’après la seconde nature» bringt das permanente Studium der Wahrnehmung des Künstlers genauso auf den Punkt, wie dessen zurückhaltend feine Ironie gegenüber der Kunstgeschichte.
«Dryade» (1985 / 2015). © Foto: René und Elisabeth Bühler 2023 © ProLitteris, Zürich
Im Werk «Dryade» beschäftigte sich Raetz mit dem weiblichen Körper. Bei der mehrteiligen Installation erscheint eine Büste in einem Spiegel vor einem blauen Hintergrund. Aber nur, wenn man den richtigen Standort für die Betrachtung findet. Raetz interessierte sich sehr für Sinnestäuschungen.
Von der Flasche zur Wolke
Ab Mitte der neunziger Jahre setzte Raetz seine Objekte in Bewegung. Gleichzeitig begann er mit feinen Mobiles zu experimentieren, die sein Spätwerk massgeblich prägten. Wo gerade noch eine Flasche zu sehen ist, erscheint im nächsten Moment ein Glas.
Erstmals gezeigt wird in der Berner Retrospektive eine von Markus Raetz geplante, aber bisher noch nie ausgeführte Rauminstallation, die er in seinem Todesjahr 2020 in mehreren Skizzen «Wolke» genannt hatte. Unter den von der Decke hängenden und von propellerähnlichen Segeln in Bewegung gesetzten Drahtobjekten erkennt man u.a. einen Apfel, ein Glas, eine Flasche, eine Pfeife, Damenschuhe, ein Buch, einen Stift, ein Kissen.
Mit der «Wolke», die von verschiedenen Seiten betrachtet werden kann und die meisten Betrachter magisch in den Bann zieht, hat uns der viel zu früh verstorbene Künstler ein einmaliges Vermächtnis, quasi die Summe seiner Werke, hinterlassen. (Redaktionelle Mitarbeit: Felicitas Lehner)
Die Ausstellung ist im Berner Kunstmuseum noch bis zum 25. Februar 2024 zu sehen. Mit dem «Digital Guide» können alle Objekte im Raum sinnlich erfahren und erlebt werden.
Titelbild: Markus Raetz, «Madame et Monsieur», 2009, Eisendraht, hartgelötet, Eichenholz, gewachst, Privatbesitz © Foto: René und Elisabeth Bühler 2023 © ProLitteris, Zürich
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Aktuelle Ausstellung im Kunstmuseum Bern 2023
Nachruf auf Markus Raetz 2020 (Kunstmuseum Bern)
Film über Markus Raetz, 2008, Regie: Iwan Schumacher, (Play Suisse)