Barrierefreie Mobilität, möglichst abgasfreie Luft und wenig Verkehrslärm sind nicht nur Anliegen älterer Personen. Was unternimmt der Verkehrsclub der Schweiz für eine altersfreundliche Mobilität? Seniorweb fragt nach bei Ruedi Blumer, Zentralpräsident des Verkehrsclubs der Schweiz (VCS).
Seniorweb: Was unternimmt der VCS gegen den Verkehrslärm?
Ruedi Blumer: Das wichtigste Vorhaben, das wir intensiv verfolgen, ist Tempo 30. Denn Tempo 30 ist die günstigste, wirkungsvollste und am schnellsten umsetzbare Massnahme gegen Verkehrslärm. Leider wehren sich immer noch zu viele Automobilisten krampfhaft gegen Tempo 30. In Quartieren hat man den Turnaround geschafft, die sogenannten übergeordneten Strassen sind aber in Städten und Dörfern meistens noch bei Tempo 50. Einige europäische Städte jedoch haben Tempo 30 fast flächendeckend eingeführt, beispielsweise Paris und viele Städte im Norden Europas. Auch auf der deutschen Seite des Bodensees steht am Eingang der Dörfer Tempo 30, darunter in grossen Lettern die Bemerkung «Lärmschutz».
Der VCS hat eine Anleitung zur Einführung von Tempo 30 ausgearbeitet, die wir den Gemeinden zur Verfügung stellen und wir arbeiten mit dem Städteverband, den nationalen Parlamenten und entsprechenden Bundesämtern zusammen. Traurigerweise wehren sich immer noch der TCS und einige konservativ dominierte Kantonsparlamente gegen Tempo 30 auf Kantonsstrassen innerorts.
Gemäss Umweltschutzgesetz und Lärmschutzverordnung aus den 80er Jahren muss der Lärm an der Quelle bekämpft werden, eben durch Tempo 30, Flüsterbelag oder schmale Pneus. Schmale Pneus lassen sich nicht durchsetzen, Flüsterbeläge werden eingebaut, sind aber doppelt so teuer und halten halb so lang wie die konventionellen Beläge. Lärmschutzwände und Lärmschutzfenster sind Ersatzmassnahmen, da dadurch der Lärm nicht an der Quelle bekämpft wird.
Wie engagiert sich der VCS für einen umweltverträglichen Verkehr?
Den am 11. September vom Nationalrat mit 94:87 Stimmen knapp gutgeheissenen Ausbau der Autobahn Zürich/Bern und Lausanne/Genf auf 6 Spuren finden wir total falsch, da dies zu noch mehr Verkehr führt. Wenn Ende September 2023 die Räte das Strategische Entwicklungsprogramm (STEP) 2023 für Kapazitätserhöhungen der Nationalstrassen in der Schlussabstimmung annehmen und damit 5,3 Milliarden verbauen wollen, werden wir das Referendum ergreifen.
E-Mobilität ist ein zweischneidiges Schwert: E-Fahrzeuge herzustellen und zu entsorgen, schafft Umweltprobleme, das Fahren mit E-Autos reduziert allerdings den C02-Ausstoss. Wer meint, mit E-Mobilität sich umweltschonend zu verhalten, täuscht sich. Wichtig ist, das Mobilitätsverhalten zu hinterfragen und je nach Situation jeweils die umweltschonendste Variante zu wählen, was sehr oft für eine Fortbewegung zu Fuss, mit Velo oder öV spricht. Die Hälfte der Autofahrten ist kürzer als 5 km und in 9 von 10 Autos sitzt nur eine Person.
Seit Corona wissen wir, dass mit Home-Office die Mobilität stark reduziert werden kann, ohne Qualitätsverlust. Viele Sitzungen können online stattfinden. Dank Home-Office kann auch die Arbeitszeit flexibilisiert werden, so dass man Rush Hours auf der Strasse und im ÖV in vielen Branchen gut ausweichen kann.
Wir engagieren uns selbstverständlich für die Förderung des ÖV, für Fahrplanverbesserungen, genug Sitz- und Veloplätze, für mehr Nachtzüge, für Reisen in Europa mit dem Zug, kurz gesagt: Zug statt Flug.
Ältere Personen gehen gerne zu Fuss oder mit dem Velo irgendwohin. Wie setzt sich der VCS für mehr Sicherheit für Ältere im Langsamverkehr ein?
Wichtig ist das neue Veloweggesetz, das seit 1. 1. 2023 (mehr als 4 Jahre nach der Abstimmung!!!) in Kraft ist. Da haben wir auch mit Pro Velo, dem TCS und weiteren Verbänden zusammenarbeiten können. Das Veloweggesetz schreibt vor, dass Gemeinden und Kantone verpflichtet sind, innerhalb von fünf Jahren je ein flächendeckendes und sicheres Velowegnetz zu planen, für Arbeitswege und Freizeit. In weiteren 15 Jahren müssen die Netze gebaut werden, d.h. in 20 Jahren müssten wir ein sicheres und lückenloses Velowegnetz haben im ganzen Land.
Sichere Radwege in der Stadt (Foto von pixabay)
Für Seniorinnen und Senioren bieten wir regional Kurse an zur Mobilität im Alter und haben 2020 eine Broschüre herausgegeben mit dem Titel «Sicher mobil sein und bleiben. 135 Tipps und Auskünfte zu 15 Fragen für den Umgang mit Mobilität im Alter.» (Siehe Link im Anhang).
Für einen barrierefreien Zugang zu Bus und Eisenbahn wird viel getan. Ist der VCS damit zufrieden?
Nein! Die Umsetzung des Behindertengleichstellungsgesetzes bezüglich Barrierefreiheit im öffentlichen Raum ist stark im Verzug. Bis Ende 2023 müssten alle Bahnhöfe, Bushaltestellen und öffentlichen Gebäude barrierefrei nutzbar sein.
Für Ältere hat es in S-Bahnen zu wenig Toiletten. Haben Sie diese Klage auch schon gehört?
Ja! In den S-Bahnkompositionen hat es in der Regel ein WC, und wenn es defekt ist, na dann… Wir verlangen, dass es in neuen S-Bahn-Kompositionen zwei WCs gibt, eines davon barrierefrei. Defekte WC sollte es deutlich seltener geben.
Für viele ältere Personen verschafft das Fahren im eigenen Auto Freiheitsgefühle und erleichtert beispielsweise Besuche und Einkäufe. Ist für den VCS der medizinische Autofahrtauglichkeitstest ab 75 eine gute Lösung?
Ja! Sicherheit hat eine sehr hohe Priorität. Es geht um die Sicherheit der Älteren beim Autofahren und um die Sicherheit der anderen Verkehrsteilnehmenden. Beim Verzicht auf das eigene Auto spielt man sich viel Geld für Taxifahrten oder öV-Billette frei.
Mit zunehmendem Alter bewegen sich viele ältere Personen gern im Quartier. Engagiert sich der VCS auch für den öffentlichen Nahraum mit sicheren, attraktiven Gehwegen, Sitzbänken, Treppengeländern, öffentlichen Toiletten, wenig Asphalt und vielen biodiversen Grünflächen?
Innerorts engagieren wir uns für die Umnutzung von asphaltierten Flächen, für die sogenannte «Entsiegelung». Mit der fortschreitenden Klimaerhitzung und dem verdichteten Bauen werden Grünflächen. Bäume, grüne Erholungsräume innerorts immer wichtiger. Begrünt können auch Fassaden und Dächer sein, wenn sie nicht für Solaranlagen genutzt werden. In diesem Bereich unterstützen wir auch gerne das Engagement anderer Akteure, wie Regionalplanungsgruppen, Gemeinden oder Quartiervereine.
Besten Dank, Ruedi Blumer, für das Gespräch!
Ruedi Blumer (geb. 1957) war 27 Jahre im St. Galler Kantonsrat, zunächst für den LdU, von 2004 – 2023 bei der SP. Da hat er sich unermüdlich für verkehrspolitische Anliegen eingesetzt. Seit 2014 ist er Mitglied im Zentralvorstand des VCS Schweiz, seit 2018 Präsident.
Titelbild: Auch während des Gesprächs mit Seniorweb muss Ruedi Blumer, Präsident des Zentralvorstands des VCS, dringende Anrufe annehmen. (Foto bs)
Links: https://www.verkehrsclub.ch
Broschüren zur Elektromobilität und zur Broschüre «Sicher mobil sein und bleiben» unter https://www.verkehrsclub.ch/ratgeber/senioren/publikationen
Herr Blumer muss während des Interview› telefonieren. Finde ich grundsätzlich sehr unanständig!
Meinem Gegenüber schenke ich meine Aufmerksamkeit – da erwarte ich Gegenrecht.
Tempo 30 soll für Quartierstrassen gelten, Tempo 50 auf verkehrsorientierten Sammelstrassen. Damit lässt sich das Ziel des VCS auch – wenn auch nur teilweise – erreichen. Dieser Absolutismus ist nicht zielführend. Dank Tempo 30 wird auch der öV wie Tram und Bus verlangsamt – der Weg dauert noch länger und es braucht noch mehr Fahrzeuge. Genau auf dem Weg von und zum Bahnhof verlieren die Menschen (zu) viel Zeit. Deshalb darf der örtliche öV nicht noch mehr verlangsamt werden. Ganz abgesehen davon: VCS und Co. wollen die Bahnlinien für höhere Geschwindigkeiten ausbauen. Dafür schleicht der Bus mit Tempo 30 nach Hause (Durchschnittsgeschwindigkeit 15 km/h) oder zum Bahnhof. Widersprüchlicher geht’s nicht…