StartseiteMagazinKulturZeitgenössisches voller Klangschönheit

Zeitgenössisches voller Klangschönheit

Das Musikfest 2023 in Berlin bot die Möglichkeit, sich neue Kompositionen anzuhören und intensiv auf Gustav Mahler und Sergej Rachmaninow einzulassen.

Vier der grossen Mahler-Symphonien (die 2., 5., 7., 9.) und Das Lied von der Erde waren innert weniger Tage hintereinander von bedeutenden Berliner- und Gast-Orchestern aufs Programm gesetzt worden. Mit dem Pianisten Melnikow hatte der zeitweilig im Luzerner Exil lebende Rachmaninow bei zwei Klavierabenden einen engagierten Fürsprecher am Flügel. Aber auch dessen 3. Symphonie, und sein letztes grosses Werk, die Symphonischen Tänze, interpretiert vom Gastorchester aus Israel unter Lahav Shani, waren im Fest-Programm, dazu in der für ihre Akustik bekannten Gethsemane-Kirche die Ganznächtliche Vigil, basierend auf alten einstimmigen Weisen der russisch-orthodoxen Kirche, a cappella gesungen vom Rundfunkchor Berlin.

Die Komponistin Betty Olivero und das Israel Philharmonic Orchestra. 

Der Berliner Musikmonat bietet die fast einmalige Gelegenheit, eine riesige Bandbreite der Musikgeschichte in wenigen Tagen zu erleben. Da sind junge Komponisten wie Francesco Filidei, der mit einem Rückgriff auf die Renaissance und den Sonnengesang von Franz von Assisi Musik von heute schreibt, oder Betty Olivero aus Israel – für viele eine neue Stimme der zeitgenössischen Musik. Die Koreanerin Unsuk Chin, in der Saison 23/24 Composer in Residence beim Basler Sinfonieorchester, gilt als eine der wichtigsten zeitgenössischen Komponistinnen. Gleich drei Werke mit unterschiedlichen Klangkörpern von ihr wurden interpretiert – herausragend das Cellokonzert der virtuos und zugleich tief emotional performenden Alisa Weilerstein mit der Staatskapelle Berlin geleitet vom Venezolaner Rafael Payare – eine Entdeckung in jeder Hinsicht und erst noch der zum Leben erwachte Scherenschnitt von Mahler als Dirigent, gemischt mit etwas Jimi Hendrix. Das Fest der Klänge reicht über die Spätromantik mit ihren Riesenorchestern zurück in die Geschichte zu Beethoven und Bach bis ins Mittelalter der Hildegard von Bingen. Musik so intensiv zu erleben ist zugleich beglückend und anstrengend, Musik hebt einen aus der Zeit und ist als Medium zugleich der Zeit verhaftet.

Der Pianist Alexander Melnikov überzeugte als Interpret von Rachmaninows Klaviermusik.

Spannend die Gegenüberstellung von Mahler und Strauss: Beide waren Komponisten und gefeierte Dirigenten, die, in der täglichen Arbeit vertraut mit Orchestern, noch die geballtesten Klangmassen zu organisieren verstanden. Rachmaninow, der dritte in diesem Jahr gross gefeierte, hat seine Musik aus den Händen des virtuosen Pianisten komponiert.

Strauss – mehr noch als Mahler – hat Filme aus Noten geschrieben, die Interpretation des Bayerischen Staatsorchesters erzeugte Bilder der Erinnerung: Eine Alpensinfonie ist die Bergwanderung vom Sonnenaufgang durch den Wald über die Wiesen zum Gipfel und zurück im Gewittersturm bis zum ruhigen Sonnenuntergang. Es ist eine gewaltige Musik voller Collagen, Cluster, Disharmonien und heftigen Rhythmen, welche Vladimir Jurowski als eindringlich plastisches Klanggemälde gestaltete.

Alban Bergs »Dem Andenken eines Engels« für Violine und Orchester (1935), mit Vilde Vrang und dem Bayerischen Staatsorchester, Leitung Vladimir Jurowski. Foto © Geoffroy Schied

Um voll zur Geltung zu kommen, erfordert die Musik jener Zeit und später einen modernen Konzertraum wie der 1964 in einer Brache dicht an der Berliner Mauer vollendeten Philharmonie von Hans Scharoun mit seiner bis heute kaum übertroffenen Akustik. Hier dröhnen nicht einmal die lautesten Tutti eines Grossorchesters, und noch die feinsten Pianissimi tragen bis in die hintersten Reihen der Arena, und dazu ist von jedem Platz aus der Dirigent und immer öfter die Dirigentin und das Orchester aus unterschiedlichen Perspektiven zu sehen.

Die herausragende Dirigentin Mirga Gražinytė-Tyla mit den Münchner Philharmonikern.

Spannend war es, jüngere Orchesterleiterinnen und -leiter neben weltbekannten zu erleben: Wer dirigiert wie! Da sind die Expressiven, die, wenn sie wie Mirga Gražinytė-Tyla zugleich geerdet sind, mehr Tiefe in die Musik bringen, daneben die Energiegeladenen, die, wie Dinis Sousa oder Robin Ticciati, mit vollem Körpereinsatz dirigieren, und wer denkt nicht an den expressiven Tanz auf dem Podium, wie Joana Mallwitz Beethovens Siebte zum Beben brachte. Nur eine Woche zuvor hat sie mit Mahlers 1. ein fulminantes Debut als Orchesterchefin des Konzerthaus Orchesters Berlin gegeben.

Oben: Joana Mallwitz, neue Chefin des Berliner Konzerthausorchesters bei ihrem Debüt in der Philharmonie. Foto: © Martin Walz. Unten: Energie und Begeisterung im Saal nach dem «Concerto in F» von Georges Gershwin mit dem Boston Symphony Orchestra und Jean-Yves Thibaudet am Piano.

Die Erfahrenen wie Andris Nelsons, Simon Rattle oder Kyrill Petrenko bringen dank ihrer Erfahrung mit Gelassenheit und immer präsenter Zuwendung zu den verschiedenen Solisten und Gruppierungen die entscheidenden langen Spannungsbögen, das Anschwellen in die Höhen und das Sinken ins leiseste und doch deutliche Pianissimi ausgewogener und präziser als die nachfolgende Generation. Ausnahme ist die erwähnte litauische Dirigentin Gražinytė-Tyla, die mit den Münchner Philharmonikern und dem Philharmonischen Chor München ein differenzierte und vollendet klingende Symphonie Nr. 2 von Gustav Mahler dargeboten hat. Dabei waren Chor und Orchester ein Opfer der Deutschen Bahn geworden, ab Köln elf Stunden unterwegs. Die Standing Ovation hat sich diese Formation in jeder Hinsicht verdient.

Der Bariton Christian Gerhaher hat mit den Berliner Philharmoniker unter der Leitung von Kirill Petrenko mehr als überzeugt. Foto: © Bettina Stöss / Berliner Philharmoniker

Ein Wunder der Musik für mich ohne Vergleich zu allem je Gehörten war das Konzert der Berliner Philharmoniker als Abschluss meiner Musikfest-Tage: Vier als sperrig geltende Komponisten, die noch nie in einem einzigen Konzertabend aufgeführt wurden, haben Petrenko und seine Berliner Philharmoniker gespielt – nicht nur einmal, nein, dreimal hintereinander im voll besetzten Grossen Saal der Philharmonie. Von solcher Programmierung kann hierzulande vorerst nur geträumt werden.

Der Abend begann mit Xenakis› Jonchaies für Orchester, gefolgt von der Uraufführung von Lég-szín-tée des ungarischen Komponisten Márton Illés, der das komplexe Stück für die Philharmoniker geschrieben hat. Karl Amadeus Hartmanns Gesangszene aus Sodom und Gomorra von Jean Giraudoux hat einmal mehr unterstrichen, dass Musik nicht im luftleeren oder apolitischen Raum entsteht. Gesungen hat ein grossartig eingestimmter Christian Gerhaher, vom Flüstern über sanfte Klänge bis zu getragenen Ausrufen und eindringlichen Schreien seine enormen vokalen Möglichkeiten auslotend, bis zu den letzten gesprochenen Worten: «Es ist ein Ende der Welt! Das traurigste von allen!». Hartmanns letztes, unvollendetes Werk von 1960 ist ein leidenschaftliches Plädoyer nicht nur gegen Krieg und Gewaltherrschaft, sondern auch gegen selbstherrlichen Wohlstand.

Den Abschluss dieses unglaublich belebenden wie erschütternden Konzerts mit Musik des 20. und 21. Jahrhunderts bildete nach Hartmanns einst auf das Nazireich gezielten Botschaft, dass eine Gemeinschaft, die nur für sich schaut und sich abschottet, früher oder später zugrunde gehen wird, die Stele von György Kurtág, ein Grabstein, in dem, angefangen mit einem an Mahler erinnernden Akkord, eigentlich die gesamte Musikgeschichte des 20 Jahrhunderts mitklingt. Nochmals ein harter Brocken, dem dieses Publikum am Ende zujubelt.

Neuentdeckung fürs Publikum: Persische Musik des Māhbānoo Ensembles im Kammermusiksaal der Philharmonie.

Das 2014 im Iran gegründete Māhbānoo Ensemble besteht allein aus Musikerinnen. Aus Teheran und Europa kommen die Musikerinnen zum Musikfest Berlin angereist, um endlich ihr öffentliches Konzertdebüt in Deutschland zu geben: mit über Jahrhunderte tradierter persischer Kunstmusik.

Titelbild: Der Philharmonische Chor München war einer der grossen Chöre beim Berliner Musikmonat.
Alle Fotos: © Fabian Schellhorn
Hier geht es zum ersten Bericht über die Musiktage 2023 in Berlin.

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