Die alte Tante von der Falkenstrasse in Zürich macht sich frisch. Während Eric Guyer, Chefredaktor der NZZ, sich in seinen Leitartikeln an der in Bedrängnis geratenen deutschen Regierungskoalition weidet, sich wohl freut, dass die AfD seine Zeitung zum Leibblatt wählt, greift Christina Neuhaus, die Inlandchefin, resolut in die eidgenössische Politik ein und hat dazu eines entdeckt: das ganz grosse Interview. Sie schuf damit eine Plattform, auf der sie sich heftig auseinandersetzen können: Gerhard Pfister, der wahre Sieger der eidgenössischen Wahlen in diesem Herbst, und Christoph Blocher, der einsehen muss, dass seine, die stärkste Partei der Schweiz, nur beschränkt Einfluss hat. Dabei selbst, vor allem allein, kaum politische Akzente im Parlament und darüber hinaus setzen kann.
Pfister weiss warum und findet unmissverständliche Worte im Interview. Vor Blocher sei die SVP eine pragmatische Partei gewesen, meint er. Die SVP und die damalige CVP hätten sich als Teil eines politischen Bündnisses verstanden, in dem meistens die FDP den Ton angegeben habe. Und wörtlich: «Blocher hat das damalige Machtkartell zerschlagen. Mit sicherem Instinkt hat er die SVP zu einer der ersten rechten Protestbewegungen Europas verwandelt. Er hat sich mit seiner Partei in aller Härte und Schärfe von den anderen Parteien abgegrenzt und vertritt nur die eigenen Interessen.»
Blocher dagegen ist überzeugt, dass nur die SVP die wahren Interessen, insbesondere die «Volksrechte des Schweizer Volkes vertritt, entgegen der Classe politique». Und wirft Pfister vor, dass er nicht das Wohl der Schweiz in den Mittelpunkt stelle, sondern nur das Wohlbefinden seiner Partei, der Mitte. Zu schwammig sei Pfisters in seiner Politik, er sei zuerst gegen Waffenexporte gewesen, die Neutralität habe er hochhalten wollen, plötzlich wolle er Waffen in die Ukraine liefern, die Neutralität relativieren. Was als ein Zeichen dynamischer Politik und besserer Einsicht verstanden werden kann, ist für Blocher des Teufels. Dagegen ist sich Blocher nicht zu schade, dem Putin-Verstehers, dem Ungarn Orban seine Reverenz zu erweisen.
Und jetzt: Wer hat recht? Tatsache ist, dass es der SVP sehr schwerfällt, es für sie fast unmöglich ist, Majorzwahlen zu gewinnen. Selbst Blocher, Toni Bortoluzzi, Ueli Maurer, Roger Köppel, Gregor Rutz, allesamt fast der Reihe nach, hatten keine Chancen im Kanton Zürich, in einer Hochburg der SVP, in den Ständerat einzuziehen. Das Stimmvolk misstraut ihnen offensichtlich, ist nicht davon überzeugt, dass sie kompromissfähig sind, dass sie die wahren Interessen der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger in ihrer Mehrheit auch vertreten.
Und so greift Blocher, der sonst so Selbstbewusste, der Topmanager von seinen Gnaden, zu einem völlig unerwarteten Vorschlag: Von aussen soll kommen, was die bürgerlichen Parteien miteinander nicht mehr können: verhandeln, nach gemeinsamen Lösungen suchen und vor allem finden. Eine Währung, wie etwa der verstorbene Fritz Gerber, soll es richten, der als Moderator/Mediator, wie auch immer, zusammenkitten soll, was nicht mehr zu kitten ist. Und von viel Fantasie zeugt der Vorschlag eh nicht, wenn für das nötige Profil ein verstorbener Manager hinhalten muss.
Selbstbewusst kann Pfister nach seinem Erfolg nun auftreten, zu verunsichert und gar nur noch ein Schatten ihrer selbst ist die einst so stolze FDP, welche nach Blocher «zweigeteilt auftritt und nur noch als Service-Club agiert».
So wird immer klarer, dass sich drei Blöcke mit je einem speziellen Profil zu bilden beginnen: rechts die SVP, in ihrem Schatten die FDP, die Mitte, die wiedererstarkte ehemalige CVP plus EVP und der linke Block mit der erstaunlich modernisierten SP und in ihrem Schlepptau die Grünen. Und die Grünliberalen? Die müssen sich wohl neu erfinden.
Wie immer, analysieren und beschreiben Sie präzis den politischen Weg, den unsere Regierung wohl einschlagen wird.
Angesichts der bedrohlichen Zuspitzung der rechtspolitischen Entwicklung bei uns, in europäischen Ländern und weltweit, vermisse ich in der politischen Debatte den Blick über die eigenen Animositäten hinaus auf die aktuellen Themen wie Klimaschutz und Kooperation mit unseren Nachbarn.
Kleinliches Parteiengezeter und -gezerre und die peinlichen Wahlspielchen zeigen eine Schweiz, die nicht aus ihrer Haut kann. Alles was heute und in Zukunft andernorts politisch entschieden wird, wird auch unser Leben beeinflussen. Die Tatsache, dass die massive Bauernlobby in unserer Regierung, die mit ihrer konservativen Haltung vor allem dem eigenen Machterhalt und ihren wirtschaftlichen Interessen dient, macht die Sache nicht besser. Über 80 % der schweizerischen Bevölkerung lebt und arbeitet in städtischen oder städtisch abhängigen Wohngebieten. Wo bleibt die adäquate Vertretung und Lobby dieser Mehrheit im Bundesrat und im Parlament?
In einem Punkt gebe ich dem Autor recht: heute weiss kein Mensch mehr, wofür die Grünliberalen eigentlich stehen.