Meine Schwiegermutter hatte eine riesige Büchersammlung mit vielen klassischen Werken. Aber am liebsten las sie historische Mördergeschichten, schaurige Märchen und Krimis.
Dass sie bei relativ guter Gesundheit und mit klarem Geist 94-jährig geworden ist, hat sicher nicht nur mit dem Bücherlesen zu tun. Aber sie ist ein gutes Beispiel für die Kernaussage einer Studie des Deutschen Zentrums für Altersfragen (DZA). In der Studie werden Menschen in der zweiten Lebenshälfte seit mehr als 20 Jahren regelmässig befragt Sie zeigt auf, dass Menschen, die viel lesen, gesünder sind und öfters positive Momente erleben als Nicht-Lesende. Wie zu erwarten ist, hat Lesen mit Bildung zu tun und Menschen mit hoher Bildung lesen mehr. Dennoch gehören auch bei den weniger Gebildeten gut ein Viertel zu den Viel-Lesern. Interessant ist, dass das Lesen in den letzten Jahren nicht abgenommen hat. Die Anteile von Viel- und Wenig-Lesern sind seit 2017 praktisch unverändert.
Wenn gewisse Aktivitäten mit dem Älterwerden kompliziert oder unmöglich werden, so ist das Lesen von Büchern etwas, dass viele Menschen bewahren oder sogar ausbauen können. Im oben erwähnten Studienbericht gibt es denn auch verschiedene Ideen, wie das Lesen gefördert werden kann. Dazu gehören Lesegruppen, wo sich Leute über ein Buch, das sie gemeinsam lesen, austauschen, aber auch Lesepartnerschaften für Schulkinder oder Angebote zum Vorlesen im Altersheim. Ein Aufruf geht an Bibliotheken, sich vermehrt als öffentliche Orte der Begegnung zu verstehen.
Der Mutter meiner Kollegin nützt das allerdings nichts. Sie leidet unter einer Makula Degeneration und sieht praktisch nichts mehr. Dennoch gehört sie immer noch zu den Viel-Lesenden. Sie bestellt ihre Bücher per Telefon (das sie mit Siri bedient) bei der SBS – der Schweizerischen Bibliothek für Blinde und Sehbehinderte. Es gibt auch die Möglichkeit, per App oder Online zu bestellen. Die vorgelesenen Bücher kommen je nach Wunsch als digitales File oder als Kassette, die man wieder zurückschickt. Das Sortiment ist riesig – die Suche nach historischen Krimis hat über 1000 Resultate ergeben – ein Eldorado an Mördergeschichten für meine Schwiegermutter.
Bibliothek für Blinde- Seh- und Lesebehinderte online
Studie DZA: Bücherlesen in der zweiten Lebenshälfte (2023)
Dr. Antonia Jann ist Gerontologin und Organisationsberaterin. Sie informiert sich regelmässig über neue Erkenntnisse aus dem Bereich der Altersforschung. Antonia Jann führt eine Coaching-Praxis in Zürich und hat sich spezialisiert auf Fragestellungen, die Menschen in der zweiten Lebenshälfte beschäftigen. www.jann-coaching.ch