StartseiteMagazinGesellschaftRussland–Ukraine: «… dann schlag’ ich dir den Schädel ein»

Russland–Ukraine: «… dann schlag’ ich dir den Schädel ein»

Der Schweizer Historiker Andreas Kappeler hat mit der Neuauflage seines Standardwerks «Ungleiche Brüder» den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine in ein Geschichtsbuch eingeordnet– wohl als Erster und mit deutlichen Worten.

Das Fazit vorweg: «Putin führt den brutalen Krieg gegen die Ukrainer, um sie dafür zu bestrafen, dass sie das russische Brudervolk, zu dem sie seiner Meinung nach seit jeher gehören, verraten haben und mit den Feinden Russlands gemeinsame Sache machen. Er will den abtrünnigen Bruder mit Gewalt in die russische Familie zurückholen. Der Macho Putin, der die patriarchalische ‹russische› Familie mit harter Hand lenkt, kann diesen Verrat nicht hinnehmen. Das erklärt seine zuweilen emotionalen, hasserfüllten Äusserungen zur Ukraine und wohl auch die besonders brutale russische Kriegführung. Wenn die Ukraine schon nicht in die Familie zurückkehren will, muss sie dafür büssen – bis hin zu ihrer Vernichtung.»

Diese Einschätzung hat umso grösseres Gewicht, als sie auf einer eingehenden Analyse des Putin’schen Geschichts- und Gesellschaftsbilds beruht, belegt mit eigenen Äusserungen des Präsidenten. Der Buchautor Andreas Kappeler ist als emeritierter Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Wien ein Kenner der Materie, den beide Seiten gewürdigt haben: mit einem russischen Ehrendoktorat (2007) und einer ukrainischen Akademiemitgliedschaft.

Magistrale Übersicht

Das 2017 erstmals erschienene Buch bietet eine magistrale Übersicht über das kulturelle und staatliche Entstehen der beiden Nationen seit dem Mittelalter, eng miteinander verflochten und doch auf unterschiedlichen Wegen. Es beleuchtet auch die wechselseitige Wahrnehmung: «Russland und die Russen haben seit dem 18. Jahrhundert die Ukraine und die Ukrainer nicht als gleichberechtigte Partner anerkannt. Der grössere Bruder liebt seinen kleineren Bruder, der schön singt und tanzt, doch bevormundet er ihn und zwingt ihm seinen Willen und seine Sprache auf.» Unter den Ukrainern mit ihrer je nach Landesgegend stark unterschiedlichen Geschichte war die Bereitschaft zur Einreihung bzw. zum Widerstand sehr unterschiedlich ausgeprägt. Diese Muster bilden denn auch den Hintergrund zum heutigen Kriegsgeschehen.

Die Ukraine hat viele Regionen mit zum Teil sehr unterschiedlicher Geschichte. Die Besetzung der Krim durch Russland wurde völkerrechtlich nie anerkannt. © Kooperation International (BMBF).

Als Schlüsselereignis sah Kappeler schon in der Erstausgabe seines Buchs die russische Annexion der Krim von 2014, im Gegenzug zum «Euro-Majdan» in Kiew. Massenproteste hatten dort den zunehmend autoritären Präsidenten Janukowitsch vertrieben, der von der unterschriftsreifen Assoziierung mit der EU abgerückt war. Die Organisatoren des Protests waren «Männer und Frauen aus der Zivilgesellschaft, die von der Mehrheit der Bevölkerung in Kiew und anderen Städten aktiv unterstützt wurden. Ihnen schlossen sich kleine Gruppen militanter Nationalisten an, die in den bewaffneten Auseinandersetzungen auf dem Majdan (und später im Donbass) eine nicht unwichtige Rolle spielten.» Zwar unterstützten ausländische Hilfswerke den «Aufbau einer Zivilgesellschaft», indes: «Der Vorwurf einer zielgerichteten Planung und Durchführung des Euro-Majdan durch die USA und die EU gehört aber ins Reich der Verschwörungstheorien.»

Putins getrübter Blick

Mit diesen Einschätzungen entkräftet Kappeler die Hauptargumente des russischen Präsidenten für Invasion und Annexion der Krim: Gemäss Putin gaben beim Umsturz und danach «Nationalisten, Neo-Nazis, Russenhasser und Antisemiten» den Ton an, und «in der Ukraine überschritten die westlichen Partner die rote Linie». Auch die angebliche Notwendigkeit, die Russen in der Ukraine zu schützen, und die historische Zugehörigkeit lässt Kappeler nicht als valable Gründe für den «Bruch des Völkerrechts und mehrerer internationaler Abkommen» gelten, auch nicht das «fragwürdige» Referendum auf der Krim.

Hingegen anerkennt er: «Das postimperiale Trauma, das als Demütigung empfundene Verhalten des Westens und das Bestreben, Russland wieder die ihm zustehende Rolle als Grossmacht zurückzugewinnen, sind ein wichtiger Faktor zur Erklärung von Putins expansiver Politik.» Aber auch hier relativiert der Autor: Zwar räumt er ein, dass «der Westen im Umgang mit Russland nicht immer Fingerspitzengefühl walten liess», aber er weist darauf hin, dass die Initiative zur Osterweiterung von Nato und EU von den betroffenen Staaten ausging.

Unterwerfung oder Rückzug?

Nahtlos knüpfen in der Neuauflage die Argumente – sowohl Putins als auch Kappelers – an diese Ausgangslage an. Noch immer ist auch im Westen zu hören, ein Eingehen auf russische Forderungen hätte den jüngsten Krieg verhindern können; dem hält der Buchautor entgegen: «Putin verlangte sogar einen Rückzug der NATO auf ihre ‹Grenzen› von 1997, also vor deren Osterweiterung, was einen Anspruch auf Hegemonie über das ehemals von der Sowjetunion beherrschte östliche Europa impliziert. Es war Putin klar, dass die NATO seine Forderungen, die das Selbstbestimmungsrecht ostmittel- und osteuropäischer Staaten missachteten, ablehnen musste: Sie hatten denn auch den Zweck, als Vorwand fur die Invasion in die Ukraine zu dienen.» Und: «Russland plante höchst wahrscheinlich eine Unterwerfung der ganzen Ukraine oder mindestens des grössten Teiles ihres Territoriums.» Aber Putin habe die Widerstandskraft der Ukraine und die Ablehnung der Invasoren auch in den nunmehr annektierten Gebieten unterschätzt.

Kappeler bekräftigt zum Schluss seine ursprüngliche Folgerung: «Ein normales gutnachbarliches Verhältnis wird nur dann hergestellt werden können, wenn Russland sich aus der Ukraine zurückzieht, seine paternalistische Haltung aufgibt und die Ukraine und die Ukrainer als eigenständige gleichberechtigte Partner anerkennt, wenn es seine Rolle als grosser Bruder aufgibt.» Nun fügt er an: «Auch wenn seit 2022 ein nur halbwegs normales Verhältnis der beiden Staaten und Volker auf längere Zeit unwahrscheinlich geworden ist, bleiben Russland und die Ukraine, Ukrainer und Russen Nachbarn mit zahlreichen historischen Gemeinsamkeiten und Verbindungen.»

Andreas Kappeler: Ungleiche Brüder. Russen und Ukrainer vom Mittelalter bis zur Gegenwart. C.H.Beck, München. Erweiterte Neuausgabe 2023. 304 Seiten, ca. Fr. 20.–

Titelbild: Der Majdan-Platz in Kiew vor dem Krieg. Foto Pixabay / Eva Mospan

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