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Gespaltene Gesellschaft?

Wir gehen mit dem Gebrauch unserer Sprache oft oberflächlich um. Zum Teil liegt es daran, dass wir gerne Ordnung im Kopf haben wollen. Wir pflegen in Gut und Böse, in Arm und Reich, in Oben und Unten zu gliedern und im Rechts-Links-Schema zu denken. Gerne sprechen wir dann von einer gespaltenen Gesellschaft. Gibt es tatsächlich einen Rösti-Graben? Seit wenigen Jahren wird ein Gegensatz von Stadt und Land konstruiert. Corona-Gegnern setzten sich ab von denjenigen, die dankbar waren, dass der Bundesrat Massnahmen traf, um mit Impfungen Covid-Ansteckungen zu verhindern. Handelt es bei solchen Uneinigkeiten wirklich um eine «gespaltene Gesellschaft»?

Man könnte sie mit ihrem Gegenteil vergleichen, nämlich mit einer «einheitlichen Gesellschaft». Einheitliche Gesellschaften existieren nur, wo die Freiheit behindert wird und die Meinungen gleichgeschaltet werden. Das trifft in Einheitsstaaten, deutlicher gesagt, in Diktaturen zu.

In Demokratien gibt es keine gespaltene Gesellschaft. Die Demokratie ist wie das Herz der Gesellschaft, und das Herz kann nicht gespalten werden, auch wenn der Kopf denken kann, was er will. Das Herz der Demokratie ist der Rechtsstaat mit den drei Gewalten, die immer wieder eine Blutauffrischung benötigen. Diese geschieht, bildlich gesprochen, durch Arterien und durch Venen, durch Druck- und Saugbewegungen. Arterien garantieren freie Wahlen und Venen entfernen den aufgestauten Druck. Daraus ergibt sich, dass ein Körper wie die Schweiz nicht gespalten werden kann. Es mag ja sein, dass die Städter ein anderes Leben leben als Menschen auf dem Land. Dennoch ist die Vermischung der Meinungen zwischen Stadt und Land so intensiv, dass die Schweiz nicht als gespalten betrachtet werden kann.

Meinungsverschiedenheit in einer Gesellschaft sind noch lange kein Entweder-Oder. Kein Entweder diese oder jene Partei. Dies würden die Amerikaner zwar bejahen: Entweder Demokraten oder Republikaner, aber nicht um den Preis, dass sie die demokratische Gesellschaft, also das Herz, opfern würden. In einer Demokratie sind unterschiedliche Mehrheiten gewünscht. Sie spalten das Ganze, das Herz der Gesellschaft aber nicht. So ist die Rede von der Gespaltenheit bloss eine partielle, vielleicht eine optische, aber keine reale.

Unser Schweizerherz schlägt für die Demokratie, die den unterschiedlichen Meinungen ausgesetzt ist. Sie braucht Druck- und Saugbewegungen, damit sie gesund bleibt. Druckbewegungen und Saugbewegungen kommen von verschiedenen Seiten. Und oh sie schaden der Demokratie nicht. Sie beleben vielmehr die Rede und Widerrede in der Gesellschaft, die ohne öffentlichen Austausch und Kommunikation erlahmt.

Im Jahr, in dem der 300. Geburtstag von Immanuel Kant gefeiert wird, sollte jeder Demokrat das Wort des grossen Philosophen reflektieren: «Die wichtigste Revolution im Inneren des Menschen ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit». Unmündig selbstverschuldet meint, der Mensch sei faul, selbständig zu denken. Denkt er, wird er sich nicht vorsagen lassen, was er zu denken hat. So sagt er auch nicht einfach nach, was andere für ihn denken. Er weiss, dass Menschen sich unterschiedliche Gedanken machen, aber die meisten schätzen sehr, in einer homogenen Demokratie leben zu dürfen, auf welche sie um keinen Preis verzichten möchten.

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6 Kommentare

  1. Leider muss ich dem Ausspruch Kants, dass der Mensch zu faul sei selbständig zu denken, beipflichten. Eigentlich sollte man doch annehmen können, dass Menschen mit leidvollen Erfahrungen aus der Geschichte gelernt haben und sich eigene Gedanken machen und nicht auf das Hü und Hot der Zeit so leicht hereinfallen.

    Sie meinen, wenn ich es recht verstehe, dass die Demokratie als solche, nicht gespalten werden könne, trotz oder gerade wegen unterschiedlicher Meinungen, die eine demokratische Gesellschaft erst am Leben erhalten. Leider bin ich mir heute nicht mehr sicher, ob Demokratien, den immer stärkeren Spannungen, xfach vervielfältig durch das Internet, noch lange standhalten oder ob es plötzlich kippt und wir Kräften ausgesetzt sind, die lieber eine starke Hand, einen Anführer mit einer vielversprechenden Ideologie und einfache Antworten auf die Fragen der Zeit haben und die auch vor Gewalt und Krieg nicht zurück schrecken.

    Mein trauriges Fazit unserer Zeit: Die Menschheit ist zwar aufgeklärter und gescheiter geworden, jedoch nicht klüger.
    Im Gegenteil, zusehends werden demokratische Werte auf dem Altar der Besserwisserei, der Gier nach Macht und Geld und der Menschlichkeit geopfert. Die Diktatoren dieser Welt sind in den Startlöchern um der Welt ihren Stempel aufzudrücken und die Schweiz ist längst involviert in die Machenschaften einer neuen Weltordnung, sie will es nur nicht sehen.
    Denn sonst würden sich die Demokraten in unserem Land mit Nachdruck für mehr Frieden, Gerechtigkeit und unsere demokratischen Werte einsetzen und sich mit den demokratischen Ländern in Europa und anderswo solidarisieren, damit die Rechtspopulisten und das Internet nicht so leichtes Spiel haben.

  2. Chapeau, Herr Iten, eine schöne und wahrhaft gescheite Kolumne! Die schweizerische Gesellschaft ist tatsächlich nicht gespalten, obgleich mit konstanter Bosheit eine Spaltung herbeigeredet wird. Und dies immerhin von 27,93% der Wählenden. Natürlich kann jedermann denken, was er will. Trotzdem, das kürzliche Interview mit dem Gott-sei-Dank-endlich-zurückgetretenen Ueli Maurer stimmt nachdenklich. Offensichtlich hat dies etwas mit dem Kopf und nur mit dem Kopf zu tun. Den Röstigraben – dies im doppelten Sinne – gibt es tatsächlich, wird aber vernünftigerweise regelmässig wieder zugeschüttet. Das hilft sehr den restlichen 72,07%.

  3. Chere Mme Mosiman
    Dennoch, gäbe es keine Vernunft, wäre die Welt schon längst untergegangen. Manchmal braucht es eben seine Zeit, besonders in der Schweiz. Ich verlasse mich drauf. Leisten Sie mir Gesellschaft.

    • Ihre Worte trösten mich, schliesslich habe ich fast mein ganzes Leben an das Gute im Menschen geglaubt, und ich folge Ihnen, noch…

  4. Lieber Andreas,

    Perfekt, wie Du die Dinge auf den Punkt bringst: «In Demokratien gibt es keine gespaltene Gesellschaft. Die Demokratie ist wie das Herz der Gesellschaft, und das Herz kann nicht gespalten werden, auch wenn der Kopf denken kann, was er will. Das Herz der Demokratie ist der Rechtsstaat mit den drei Gewalten, die immer wieder eine Blutauffrischung benötigen.»

    Ja, «Blutauffrischung» brauchen wir aber vor allem im Handeln und nicht nur im unverbindlichen Denken!

    Immanuel Kant hat schon zu seiner Zeit klar und deutlich festgeschriben: «Die wichtigste Revolution im Inneren des Menschen ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit». Haben wir den Ausgang gefunden? Wohl immer weniger, denn je…?

    Irgendwie findet man noch heute den Ausgang «…aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit» NICHT!

    Leider ist es heute vielfach so, dass man hinter dem Begriff «Denken» die eigentlich klare Meinung versteckt und nicht mehr zu einer Bereitschaft für die SACHE einsteht: Früher galt, dass man sich für «etwas einsetzt», der «Meinung ist, dass…», «sich für etwas engagiert» und sich «für die Gesellschaft der einfachen Menschen» einsetzt usw.usf. HEUTZUTAGE äussert sich die Mehrheit der Gesellschaft nur unverbindlich: «Ich denke, dass»…

    Das Faktum eines klaren Engagements für Mensch und Gesellschaft bleibt – mit Ausnahmen natürlich – bleibt vielfach in den Wolken der Unverbindlichkeit!

    Fakt ist in der TAT, dass «unterschiedlichen Meinungen» wichtiger denn je sind… und «Rede und Widerrede in der Gesellschaft» den zielführenden Austausch und die Kommunikation bereichern…

  5. Lieber Andreas,

    vorerst besten Dank für deine interessante Kolumne. Natürlich bist du ein grosser Kenner von Kant und sicher imstande, sein Werk besser zu kennen, als ich das kann. Trotzdem erlaube ich mir, anlässlich des 300 Jahr – Jubiläums ein paar Gedanken zu Kant zu äussern: Sein Gedanke, dass der gesellschaftliche Fortschritt immer auch ein moralischer Fortschritt sein sollte, das gefällt mir und ist sehr modern. Und wenn ich an die obige Kolumne betreff der Gespaltenheit der Gesellschaft denke, so kommen mir Politiker und Wirtschaftsvertreter in den Sinn, die nur oder vor allem an die nächsten Wahlen oder den eigenen Geldbeutel denken. Natürlich ist mir bewusst, dass es Ausnahmen gibt, die es nicht nötig haben, laut zu schreien, sondern einfach zu sein, gemäss der Aussage von Kant «Habe den Mut , dich deines eigenen Verstandes zu bedienen».

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